Tiefe Staatskrise
Staatsanwältin ermittelt in Venezuela wegen Wahlbetrug

Bange Stunden in Caracas: Venezuela hat seit Sonntag praktisch zwei Volksvertretungen - das echte Parlament und eine neugewählte Verfassungsversammlung. Manipulationsvorwürfe bei deren Wahl bestreitet Staatschef Maduro. Die Staatsanwaltschaft leitete ein Ermittlungsverfahren ein.
Publiziert: 03.08.2017 um 05:47 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 06:45 Uhr
Wahlcomputerfirma bestätigt Manipulation
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Wahlleitung Venezuelas weist Betrugsvorwürfe zurück:Wahlcomputerfirma bestätigt Manipulation

In der tiefen Staatskrise versuchte der sozialistische Staatschef Nicolás Maduro, die Betrugsvorwürfe zu entkräften. Über zwei Millionen hätten nicht wählen können, wegen der Blockaden und Proteste der Opposition, sagte Maduro in Caracas.

Die Chefin der nationalen Wahlbehörde, Tibisay Lucena, nannte die Vorwürfe der für die Wahlcomputer zuständigen Firma Smartmatic «unverantwortlich«. Die Firma hatte mitgeteilt, dass eigene Serverdaten zeigten, dass die Wahl zur Verfassungsgebenden Versammlung massiv manipuliert worden sei - es hätten bei weitem nicht die offiziell verkündeten 8,1 Millionen Menschen abgestimmt.

«Ohne jeden Zweifel manipuliert»

Generalstaatsanwältin Luisa Ortega leitete daraufhin ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf Betrug bei der Wahl zur verfassunggebenden Versammlung eingeleitet. «Ich habe zwei Staatsanwälte beauftragt, gegen die vier Direktoren des Nationalen Wahlrates wegen dieses sehr skandalösen Vorgangs zu ermitteln», sagte Ortega am Mittwoch dem Sender CNN.

Venezuelas Präsident Nicolas Maduro streitet die Betrugsvorwürfe ab.
Foto: MARCO BELLO

Der britische Hersteller der Wahlmaschinen in Venezuela, Smartmatic, hatte zuvor mitgeteilt, die Zahlen zur Wahlbeteiligung vom Sonntag seien «ohne jeden Zweifel manipuliert» worden. Die Zahl der abgegebenen Stimmen sei viel niedriger als von der Wahlbehörde angegeben. Angeblich sollen mehrere Mitarbeiter der venezolanischen Firma aus Angst vor Repression das Land vor den in London gemachten Erklärungen verlassen haben.

Rund 8,1 Millionen Menschen beteiligten sich der Wahlbehörde zufolge - andere Schätzungen gehen von maximal knapp vier Millionen Menschen aus, was einer Wahlbeteiligung von gerade einmal rund 20 Prozent entspreche. Die Wahlbeteiligung ist entscheidend, weil sie Auskunft gibt über den Rückhalt für die Pläne des sozialistischen Staatschefs Maduro. Befürchtet wird die Umwandlung in eine Diktatur über den Hebel der Verfassungsreform.

Aufruf zu Massenprotesten

Parlamentspräsident Julio Borges sprach von einem riesigen Betrug und forderte eine Absetzung der konstituierenden Sitzung der Versammlung. «Die Firma (Smartmatic) hat Daten auf ihren Servern, die beweisen, dass überall die Resultate aufgeblasen worden sind. Die Firma, die die Wahlen am Sonntag begleitet hat, und seit über einem Jahrzehnt in Venezuela begleitet, sagt, dass die Resultate nicht stimmen.«

Die Vorwürfe brachten die Planungen der Sozialisten offenkundig durcheinander. Maduro verschob die ursprünglich für Donnerstag geplante Auftaktsitzung der neuen Verfassunggebenden Versammlung auf Freitag. Die Sitzung solle «in Frieden» verlaufen, begründete Maduro den neuen Termin.

Die Opposition hatte bereits zu Massenprotesten gegen das neue Gremium aufgerufen. Die 545 Mitglieder sollen die aus dem Jahr 1999 stammende Verfassung reformieren und werden in der Nationalversammlung tagen. Dort hat das Parlament aber seinen Sitz, in dem das aus 20 Parteien bestehende Oppositionsbündnis «Mesa de la Unidad Democrática» über eine klare Mehrheit verfügt.

Als Kandidatin für den Vorsitz der neuen Versammlung gilt die Ehefrau des sozialistischen Staatschefs Maduro, Cilia Flores. Die Opposition hatte die Wahl der Mitglieder am Sonntag boykottiert. Es standen praktisch nur Vertreter des Regierungslagers zur Wahl. Unklar ist, was mit den bisherigen Abgeordneten passieren soll. Die Opposition rief zu Massenprotesten und zur friedlichen Verteidigung des Parlaments auf.

Vermutet wird, dass die Versammlung als «Parlament des Volkes» die in einer regulären Wahl bestimmten Volksvertreter ersetzen könnte. Maduro will auch härtere Strafen, die Justiz könnte noch stärker kontrolliert werden. Zudem soll die Immunität der bisherigen Abgeordneten aufgehoben werden: damit könnten Oppositionspolitikern, die Proteste gegen Maduro organisieren, lange Haftstrafen drohen.

EU und USA erkennen Versammlung nicht an

Die USA als grösster Abnehmer prüfen einen Importstopp für Erdöl. Zudem wurde der Regierungschef mit Finanzsanktionen belegt und mögliche Vermögen in den USA eingefroren. US-Präsident Donald Trump nennt ihn einen Diktator. Auch die Europäische Union prüft Sanktionen. Die EU und die USA erkennen die Versammlung nicht an.

Die Arbeit an der neuen Verfassung kann bis zu ein Jahr dauern. Schon in der Zeit hätte Maduro freie Hand. Seit April starben bei Protesten über 120 Menschen.

Die EU und die US-Regierung fordern zudem, politischen Gefangenen freizulassen. Die beiden führenden Oppositionspolitiker Leopoldo López, Chef der Partei Voluntad Popular, und Antonio Ledezma, Bürgermeister der Metropolregion Caracas, waren in der Nacht zu Dienstag in ihren Wohnungen vom Geheimdienst abgeholt worden. Beide sassen schon in Haft, zuletzt war ihnen Hausarrest gewährt worden.

Als einer der Initiatoren der Reform wird auch der bisherige Vizechef der Sozialistischen Einheitspartei, Diosado Cabello, in die Versammlung einziehen. Er hatte angekündigt, dass dort die von der Opposition abgehängten Porträts des Begründers des «Sozialismus des 21. Jahrhunderts», Hugo Chávez, wieder aufgehängt werden sollen - als symbolisches Zeichen der Rückeroberung. «Und sie werden nie mehr verschwinden", hatte Cabello laut dem Portal «El Nacional» gesagt. (SDA)

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