Hier hielten Russen ukrainische Zivilisten gefangen
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Folterkammer-Rundgang:Hier hielten Russen ukrainische Zivilisten gefangen

Überlebender spricht von Elektroschocks, Massengrab gefunden
Berichte über grausame Folter-Herrschaft der Russen

In der kürzlich befreiten Region Charkiw entdeckten ukrainische Polizisten Folterkammern, die russische Streitkräfte eingerichtet hatten. In der Nähe wurde ein Massengrab entdeckt – hat sich hier ein zweites Butscha ereignet?
Publiziert: 18.09.2022 um 16:36 Uhr
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Aktualisiert: 18.09.2022 um 16:38 Uhr

Je weiter sich die russischen Streitkräfte aus der kürzlich befreiten Region Charkiw im Osten der Ukraine zurückziehen, desto deutlicher wird, welchen Preis die Zivilbevölkerung unter ihrer Herrschaft zahlen musste. Ukrainische Polizisten entdeckten laut eigenen Angaben Folterkammern, die von den russischen Streitkräften während ihrer Besetzung der Region eingerichtet worden waren. Überlebende sprechen von Elektroschocks, Exhumierungen und gewaltsamen Tötungen.

Im Frühjahr kamen eine Reihe von Kriegsverbrechen von russischen Streitkräften an der ukrainischen Zivilbevölkerung unter dem Namen «Massaker von Butscha» ans Licht. Ermittlungen der Polizei zeichnen nun ein ähnliches Bild in Charkiw als Teil eines grausamen Musters, das in jedem von den Invasoren besetzten Gebiet zu beobachten ist.

Er wurde mit Elektroschocks gefoltert

Maskierte, russische Soldaten hätten ihn aus seiner Zelle im Keller einer Polizeistation in der Stadt Isjum geholt und auf einen Bürostuhl gesetzt, erzählt der von den Gräueltaten betroffene Maksim Maksimov (50) gegenüber dem «Guardian». Ihm sei eine zickzackförmige Klemme an seinem Finger befestigt worden, über die er mit Elektroschocks gefoltert worden sei.

Ukrainische Polizisten entdeckten Folterkammern in der kürzlich befreiten Region Charkiw.
Foto: Twitter / @nexta_tv
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«Ich brach zusammen. Ich hatte eine Kapuze auf dem Kopf, konnte nichts sehen. Meine Beine wurden taub», erinnert sich der ukrainische Verleger. «Dann taten sie es wieder. Ich wurde ohnmächtig. Vierzig Minuten später kam ich in meiner Zelle wieder zu mir.» Der Folterraum sei ein überdachter Schiessstand gewesen, dessen Wände, wie er erst später herausfand, schallgedämpft waren.

Ein Drittel verfiel dem Stockholm-Syndrom

Die russische Armee hatte die Polizeistation bereits im April 2022 nach erbitterten Kämpfen eingenommen. Laut Maksimow nahmen die Soldaten jeden fest, der im Verdacht stand, pro-ukrainische Ansichten zu vertreten. Er war im besetzten Gebiet zurückgeblieben, um sich um seine alte Mutter zu kümmern. Neuer «Bürgermeister» von Isjum wurde der Putin-freundliche und eigentlich pensionierte Polizeichef Vladislav Sokolov.

Etwa ein Viertel der 60'000 Einwohner von Isjum lebte unter russischer Herrschaft. Ein Drittel von ihnen sympathisierte mit den Besatzern, so Maksimov. «Das ist das Stockholm-Syndrom», vermutet er. Die Russen tauschten Diesel gegen hausgemachten Wodka. Die Stadt lebte mit wenig Lebensmitteln und ohne Strom.

Massengrab in Isjum gefunden

Wie viele Menschen während der fünfmonatigen Besetzung der Stadt durch Russland verschwunden sind, konnten die Einwohner nicht sagen. Eine Antwort konnte am Samstag in einem Kiefernwald am Stadtrand in der Nähe eines russischen Kontrollpunkts gefunden werden. Unter herbstlich orangefarbenen Bäumen exhumierten ukrainische Gerichtsmediziner ein Massengrab, in dem sich die Kriegstoten von Isjum befanden – 443 Menschen seit Februar, darunter auch 17 ukrainische Soldaten.

Die ersten 40 Leichen konnten am Freitag geborgen werden. Einigen seien wie in Butscha die Hände zusammengebunden gewesen; am verwesten Arm einer Frau habe ein Armband in den ukrainischen Farben Blau und Gelb gehangen, steht in einem Bericht.

«Wir haben bereits mehrere Leichen exhumiert, die nicht nur Anzeichen eines gewaltsamen Todes, sondern auch Anzeichen von Folter aufwiesen. Einigen fehlten die Ohren und dergleichen», sagte Yevhenii Yenin, stellvertretender Innenminister der Ukraine, zu «yahoonews». Doch das sei erst der Anfang.

Insgesamt zehn Folterkammern

Ukrainische Beamte geben an, dass sie mindestens zehn Folterkammern in anderen kürzlich befreiten Städten gefunden haben, darunter Wowtschansk, direkt an der Grenze zu Russland, Kupiansk und Balaklija. Jedoch sei es noch zu früh, um von einem zweiten Butscha zu sprechen, sagte Roman Kasianenko, der stellvertretende Chefankläger von Charkiw, dem «Observer».

«Was wirklich auffällt, ist, dass die Besatzer die Zeichnungen ihrer Kinder direkt neben den Folterkammern aufgehängt haben», berichtete Andrii Niebytov, Leiter der nationalen Polizei. (hei)

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