Unterwegs mit der ukrainischen Armee in Russland
«Beim Angriff haben sich die Feinde im Wald verschanzt»

Seit über einem Monat besetzt die ukrainische Armee Gebiete in Russland. Nun hat die russische Armee eine Gegenoffensive gestartet, schickt bewaffnete Drohnen, schiesst Raketen ab. Blick besuchte das eroberte Gebiet.
Publiziert: 23.09.2024 um 01:26 Uhr
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Aktualisiert: 23.09.2024 um 09:41 Uhr
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Helena SchmidReporterin

Presseoffizier Vadym zuckt mit dem Kopf, kneift die Augen zusammen, erstarrt für wenige Sekunden. Er lässt sich kein Geräusch entgehen, sucht unablässig den Himmel ab. Morgendämmerung in Kursk, Russland – Ukrainer Vadym ist auf feindlichem Territorium, bereit, bei der kleinsten Gefahr ins Militärauto zu springen und über die Grenze zu rasen: zurück in die Ukraine.

Für Blick ist es der erste journalistische Einsatz in Russland seit Beginn des Angriffskriegs. Anfang August hat die ukrainische Armee die Grenze zu Kursk gestürmt und Gebiete in der russischen Region unter ihre Kontrolle gebracht. Doch nun läuft eine Gegenoffensive – und die Gefahr, von russische Drohnen oder Raketen getroffen zu werden, ist deutlich spürbar. Nicht nur am nervösen Verhalten des Presseoffiziers.

Pilzförmige Rauchwolken am Horizont, Rauchschwaden in der Luft, dumpfe Geräusche von Einschlägen. Bis vorletzte Woche hat die ukrainische Armee noch Journalisten mit nach Sudscha genommen, die grösste besetzte Siedlung in Kursk. Doch jetzt hat das Verteidigungsministerium Pressetouren nach Kursk untersagt. Für Blick machen die Behörden eine Ausnahme: Wir können die Grenze überqueren, bleiben aber im Gebiet der Zollhäuser.

«Die Frage ist, wie lange die Ukraine Kursk halten kann»
2:40
Blick an der russischen Grenze:«Die Frage ist, wie lange die Ukraine Kursk halten kann»

Soldaten liessen Schuhe zurück

Ukrainische Soldaten haben am Grenzübergang Sudscha einen Checkpoint eingerichtet, lassen nur militärische Fahrzeuge mit Erlaubnis durch. Ein paar Hundert Meter weiter hinten stehen die Ruinen der Zollgebäude. Die Blechverkleidungen sind zerschossen, Fenster eingeschlagen, überall liegen Patronenhülsen und Raketenteile herum. «Diese Gebäude wurden bei der Offensive zerstört», erklärt Vadym.

Das Satellitennetzwerk Starlink, das die ukrainische Armee zur Kommunikation verwendet, funktionierte hier zunächst nicht. Mittlerweile konnten die Truppen Starlink auf ihre Gebiete in Russland ausweiten.

Blick besucht den Grenzübergang Sudscha auf russischem Gebiet.
Foto: Helena Schmid
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An den Zollgebäuden lässt sich erahnen, wie überraschend dieser Angriff auf Kursk kam: Soldaten liessen vertrauliche Dokumente, Lebensmittel, Zigaretten und sogar einzelne Schuhe zurück.

«Wir versorgen die russischen Zivilisten»

Presseoffizier Vadym betont, die ukrainische Armee halte sich bei der Invasion an humanitäres Völkerrecht. «Wir versorgen die russischen Zivilisten, die nicht aus unseren Gebieten evakuiert wurden, mit Lebensmitteln und Medikamenten», sagt er. Die humanitäre Lage sei dennoch schwierig, die Russen würden Kursk in ihrer Gegenoffensive nicht verschonen. Russische Luftangriffe hätten Teile von Sudscha mittlerweile in Schutt und Asche gelegt.

Auch die angrenzende ukrainische Region Sumy wird täglich mit Raketen beschossen. Das Dorf Junakiwka liegt knapp neun Kilometer vor der russischen Grenze – inmitten von Weizenfeldern. In den vergangenen Wochen hat es wenig geregnet, der Geruch von Feuer liegt in der Luft.

Oleksandr Stepanowitsch (73) hat die Fenster seines Hauses in Junakiwka mit Spanholzplatten abgedeckt. Er greift in die Regenrinne, nimmt zwei Munitionssplitter heraus. «Russisch», sagt er.

«Niemand wird dieses Feuer löschen!»

Obwohl ihr Alltag wieder gefährlicher wird, unterstützt das Paar die Offensive der ukrainischen Armee. «In den vergangenen Wochen war es ein bisschen ruhiger, man merkte, dass sie Gefechte auf Kursk konzentrierten», erzählt Oleksandrs Frau Ljubow Hryhoriwna (65).

Das Geräusch dreier Einschläge unterbricht sie. Am Horizont steigt Rauch auf. Ein vertrocknetes Feld steht in Flammen. Die Häuser rundherum – zerstört und verlassen. Ein alter Mann fährt auf einem rostigen Velo vorbei. «Niemand wird dieses Feuer löschen», schreit er. «Wir haben gar kein Wasser.»

Eigentlich hat die ukrainische Armee die Evakuierung dieser Dörfer an der Grenze angeordnet. Seit Beginn der Offensive haben 22'000 Zivilisten ihre Häuser verlassen. Stepanowitsch und Hryhoriwna bleiben, kümmern sich um ihren Garten. Sie ernten Sommergemüse und Früchte, füttern die Hühner. «Ich habe dieses Haus mit meinen eigenen Händen gebaut», sagt Stepanowitsch. «Und bringe es nicht übers Herz, hier wegzugehen.»

«Krieg ist wie ein Schachspiel»

Ukrainische Einheiten warten an versteckten Posten im Grenzgebiet auf den nächsten Einsatz an der Kursk-Front. Blick besucht den Kommandanten Yaroslav (33) und seine Truppe. Sie gehören zur reaktiven Artillerie der 80. Luftangriff-Division, kämpften zuletzt in der Region Donezk – wo die russische Armee derzeit kleinere Gebietsgewinne meldet. Die Verteidigung der Ukraine gerät unter Druck.

Yaroslav findet es dennoch richtig, dass die ukrainische Armee auf Angriff setzt. «Krieg ist wie ein Schachspiel», sagt er. «Unser Ziel ist es, zu gewinnen. Es reicht nicht, unsere Bauern zu schützen. Wir müssen strategisch vorgehen, um Druck auszuüben.»

Während der Offensive feuerten Yaroslav und seine Kameraden Mehrfachraketen ab. «Wir können damit eine Fläche von 16 Fussballfeldern innert kürzester Zeit treffen», erklärt er. «Beim Angriff auf Kursk hatten sich die Feinde in Waldabschnitten verschanzt. Das bedeutet eine hohe Konzentration der feindlichen Kräfte in einem Gebiet. Hierfür sind Mehrfachraketen ideal.»

Asow-Soldaten gegen russische Wehrpflichtige

Rund 6000 russische Soldaten haben in Kursk ihr Leben verloren. Hunderte weitere haben die Ukrainer gefangen genommen. Darunter Wehrpflichtige, was die Verhandlungsposition der Ukraine stärkt. Denn der russische Präsident Wladimir Putin (71) hatte seinem Volk versprochen, Wehrdienstleistende würden nicht in die «Spezialoperation» in der Ukraine hineingezogen.

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3:13
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Um die Wehrpflichtigen nach Hause zu bringen, musste die russische Armeeführung die für sie wichtigen ukrainischen Gefangenen des Asow-Bataillons aus Mariupol eintauschen. Dieser Schachzug scheint aufgegangen zu sein. Die Erfolge in Kursk geben den Menschen in der Ukraine ihre Hoffnung zurück.

Am russischen Grenzposten in Kursk macht Presseoffizier Vadym ein Selfie vor dem Schriftzug «Russland». Er lehnt sich durch das zerschlagene Fenster ins Innere eines Zollgebäudes, nimmt eine russische Zeitschrift. Auf dem Cover eine Story zu einem Einbruch eines nackten Räubers – dazu ein Foto. Vadym lacht, drückt der Blick-Reporterin die Zeitschrift in die Hand. «Als Andenken», sagt er, bevor er mit ernster Miene ruft: «Wir fahren zurück. Sonst entdecken uns die Drohnen.»

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