Warum Wladimir Putin so beliebt ist
Der Schlächter der Herzen

Wer normalen Russinnen und Russen zuhört, erfährt die Folgen von zwei Jahrzehnten Putin-Herrschaft – und deren Unterstützung aus dem Westen. Auch aus der Schweiz.
Publiziert: 26.03.2022 um 21:12 Uhr
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Aktualisiert: 27.03.2022 um 09:21 Uhr
Reza Rafi

Larissa (34), Kommunikationsfachfrau, stammt aus einer Stadt im Süden Russlands. Sie hat Mühe mit ihrer Familie. Vater, Mutter, Onkel und Tanten: Alle unterstützen ihren Präsidenten Wladimir Putin (69) bedingungslos – sogar die 85-jährige Oma. «Die Menschen in der Ukraine täten ihr leid, meint sie», berichtet Larissa. «Und dann sagte sie mir, dass es doch die ukrainischen Soldaten seien, die auf die Menschen schiessen.»

Larissas Grossmutter sieht das Hauptproblem darin, dass die Rote Armee im Zweiten Weltkrieg nicht alle Nazis ausgelöscht hat. Sie gehört der Generation an, die sich nur über das Staatsfernsehen informiert. Dort wurde am Abend des Kriegsausbruchs «Der Bachelor» ausgestrahlt.

Darum ist Putin in Russland immer noch so beliebt
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Osteuropa-Expertin erklärt:Darum ist Putin in Russland immer noch so beliebt
Big Brother: Ein Wandbild des Präsidenten in Kashira, südöstlich von Moskau.
Foto: Bloomberg via Getty Images
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Larissa will weder ihren Nachnamen noch ihren Heimatort gedruckt sehen. SonntagsBlick hat mit fünf Personen geredet, die der schmalen Mittelschicht des riesigen Landes angehören. Wieso fällt es vielen so schwer, mit dem Kriegstreiber Putin zu brechen? Larissa: «Es ist, wie wenn du dich in einen Mann verliebst, ihn heiratest, alles ist gut, und nach ein paar Jahren wird er gewalttätig. Dann willst du nicht so schnell wahrhaben, dass das nicht mehr der alte ist, in den du dich verliebt hattest.»

Sichere Renten dank sprudelnder Devisen

Für viele scheint der Präsident noch immer den Aufschwung am Beginn des neuen Jahrtausends zu verkörpern, als mit dem globalen Wirtschaftswachstum die Rohstoffpreise in den Himmel schossen und moderne Jobs entstanden.

Dank sprudelnder Devisen konnte der neue Staatschef die Senioren mit sicheren Renten beglücken. Und die 90er-Jahre vergessen lassen, als sich die Nation mit ihrem trinkfreudigen Präsidenten Boris Jelzin (1931–2007) und abtrünnigen Provinzen beschäftigen musste: Putin, der Landesvater.

Aber es gibt ja auch Putin, den Kriegsfürsten. Dessen erbarmungslose Herrschaft so begann, wie sie heute ihren blutigen Tiefpunkt erlebt: mit der Wiedergutmachung einer Schmach.

Architektur nach Moskauer Geschmack in Grosny

Russland war im ersten Tschetschenienkrieg 1996 besiegt worden, Jelzin hatte der Region im Kaukasus staatliche Autonomie zugesichert. Und am aufstrebenden neuen Ministerpräsidenten Putin war es nun, diese kollektive Demütigung zu tilgen: Tschetschenien musste fallen. Um jeden Preis. Die Hauptstadt Grosny wurde dem Erdboden gleichgemacht. Wie in späteren Jahren Aleppo, Homs – und Mariupol.

Die Welt, die Putin an seinem ersten Kriegsschauplatz als Präsident hinterlassen hat, beschrieb der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani (54) im Buch «Entlang den Gräben», das 2018 erschienen ist: «Wer meint, dass es unmöglich sei, einem Volk das Rückgrat zu brechen, hat Grosny nicht gesehen. Nicht einmal im Nationalmuseum wird an die beiden Kriege mit Russland erinnert, die ein Viertel der Bevölkerung das Leben kosteten und mehr als die Hälfte vertrieben – das ist ein höherer Anteil als in Weissrussland während des Zweiten Weltkriegs, und dort gibt es wenigstens für manche Opfer Denkmäler.»

Stattdessen findet man nun Architektur nach Moskauer Geschmack: «Wolkenkratzer, an denen Lichtdesign in allen Farben blinkt, klassizistische Fantasiegebäude, das Theater, eine Mischung aus Taj Mahal und Petersdom, der Präsidentenpalast mit mehr Säulen als das alte Rom. An jeder zweiten Ecke hängen Fotos von Putin und den beiden Kadyrows, Vater und Sohn.»

So muss man sich wohl die Kreml-Vision eines besiegten Kiew, Odessa oder Lwiw vorstellen: als geschichtsloses Vasallenland, als potemkinsche Fassade für Putins Grossmachtfantasien.

2018 posierten Polizisten noch mit Fans

Im Gespräch mit Jelena (44), der Mutter zweier Kinder aus Moskau, wird klar, dass jede Erzählung auch eine andere Seite hat: «Der Präsident beendete den Tschetschenen-Terror», betont sie. Den gab es zweifellos.

Zu Putins Blutspur, die sich durch Tschetschenien, Dagestan, Georgien, Syrien, Libyen und die Ukraine zieht, gibt es auch eine innenpolitische Sichtweise.

Regelmässig ertönt etwa das Argument der Nato-Bedrohung. In der Schweiz liest man es vor allem auf dem Portal des Revolutionären Aufbaus und in der «Weltwoche».

Die Brutalität gegen Mitbürger, die gegen den Krieg protestieren, findet sie schrecklich: «Es sind dieselben Polizisten, die an der WM 2018 freundlich mit Fans posierten. Wieso können die nicht wieder wie damals sein?»

Zuspruch aus dem Westen

Das faschistoide System aus Repression, Gleichschaltung der Medien und Kriegsrhetorik entstand nicht über Nacht, sondern in zwei Jahrzehnten der Herrschaft Putins. Nicht zuletzt konnte der vielleicht grösste Schlächter des 21. Jahrhunderts lange auf Zuspruch im Westen zählen.

In den Nullerjahren herrschte in den Wirtschaftsfakultäten, auch an Schweizer Unis, eine vorbehaltlose Euphorie über die Emerging Markets, die Märkte der aufstrebenden Schwellenländer. Francis Fukuyamas Schlagwort vom «Ende der Geschichte» markierte den damaligen Zeitgeist in Managerbüros, Parlamenten und Hörsälen: Nie wieder nationalstaatliche Zwänge und Kriege, das Primat der Wirtschaft erlöst die Menschheit!

Russland war in erster Linie Renditeobjekt und seine dubiosen Milliardäre willkommene Investoren. Das Geld liess die zahlreichen Morde und Mordversuche an russischen Regimekritikern wie Anna Politkowskaja, Alexander Litwinenko oder Sergei Skripal in den Hintergrund rücken.

Anders als die Mullahs in Teheran, die Stalinisten in Pjöngjang oder die venezolanischen Erdölsozialisten blieb Putin im Westen salonfähig; vielerorts genoss er sogar Kultstatus.

Gegengewicht zum «imperialistischen» Amerika

Sinnbildlich ist das Interview der Hollywood-Grösse Oliver Stone (75, «The Doors»), der den Kreml-Chef über Monate begleitete. In einer Szene tritt Putin in Eishockey-Montur aus der Garderobe und grüsst seinen Gast: «Hello Mr. Stone!» Worauf dieser in herzhaftes Gelächter ausbricht. «Sie sehen bunt aus! Wie Mighty Mouse. Cool.» Der Film entstand 2017 – nach der völkerrechtswidrigen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim.

Für Linke wie Oliver Stone oder Sahra Wagenknecht (52) war Putin lange ein willkommenes Gegengewicht zum «imperialistischen» Amerika. Dazu passt das deutsche Mantra von Putin als «Partner des Westens». Rechte und Rechtspopulisten wiederum feierten seinen reaktionären Machismus als Antithese zu Wokeness und Gendersternchen.

Dass ein Despot Unterstützer an den politischen Polen im Westen findet, gab es schon einmal. Der Schriftsteller Klaus Mann (1906–1949) beschrieb in seinen Memoiren «Der Wendepunkt», wie den Nationalsozialisten aus dem Ausland zunächst Sympathien entgegenflogen: «Hitler war gegen den Kommunismus, was genügte, ihn in feinsten europäischen Kreisen beliebt zu machen. Wenn er Eroberungspläne hatte, so waren sie doch wohl ausschliesslich gegen den Osten gerichtet, will sagen, gegen die Sowjetunion. Umso besser!»

Und die US-Kommunisten hätten in den Dreissigern «ihren ganzen Hass auf die ‹Kriegshetzer in Washington› konzentriert, während sie an den Friedensfürsten in Berlin ‹revolutionäre Züge› entdeckten», schreibt Mann. «Hat Hitler sich nicht für die ‹Brechung der Zinsknechtschaft› ausgesprochen?»

Freunde haben sich mit Dollars eingedeckt

Filmstudentin Aleksandra (27) treiben andere Sorgen um: «Ich befürchte, dass die Sanktionen die Falschen treffen», meint die Moskauerin, «nämlich die pro-westliche Mittelschicht, die europäische Produkte kauft und Big Macs isst.» Die Nachrichten von geschlossenen Filialen seien aber «ein Witz», sagt sie. «Die meisten Läden sind offen.» Ihre Freunde hätten sich mit Dollars eingedeckt. «Wir sind vorbereitet!» Aleksandra erinnert daran, dass man die Misere der 90er überstanden habe und die Grosseltern den Zweiten Weltkrieg. Schlimm werde es erst, wenn lebenswichtige Medikamente fehlen.

Weiss sie, was ausserhalb Russlands berichtet wird? «Klar.» Mit geschützten Netzwerkverbindungen nutzen ihre Altersgenossen Telegram, Instagram, Tiktok – manche auch die verbliebenen kritischen Kanäle wie «Meduza» und «Nowaja Gaseta».

Dennoch fragt Jelena, die zweifache Mutter: «Ist nicht auch Propaganda, was der Westen berichtet? Wer garantiert uns, dass das alles stimmt, was ihr seht?» Dass extremistische Gruppen für die Ukraine kämpfen, ist aktenkundig. Ebenso wie Korruptionsvorwürfe, die vor Kriegsausbruch gegen Wolodimir Selenski (44) laut wurden.

Kreml-Herrscher sind heilig

Offensichtlicher Humbug hingegen ist das antifaschistische Narrativ der russischen Regierung. Überhaupt tauchen immer wieder zwei Motive in ihrer Propaganda auf: Nato und Nazis.

Putins Nazi-Gerede kommentierte der russische Historiker Kamil Galeev vom Washingtoner Woodrow Wilson Center auf Twitter: «Der Kreml setzt es als Waffe ein, um jede ausländische Opposition zum Schweigen zu bringen. Wenn Sie sich Putin nicht unterwerfen, beweist das, dass Sie Nazi sind.» Es gehöre zu Russlands Mythos, dass die Kreml-Herrscher heilig sind, weil sie einmal Nazi-Deutschland besiegt haben.

Seit dem 4. März gelten die Zensurgesetze, die für Fake News bis zu 15 Jahre Gefängnis vorsehen. Sie gelten auch für eine Generation, die weder den Nationalsozialismus noch die Sowjetunion erlebt hat. Wie Michail (39), Ingenieur aus St. Petersburg.

Er sagt: «Wir haben die Wahl zwischen Lüge und Gefängnis.»

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