«Mit der Selektion geht viel Potenzial verloren»
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Schulleiter Jörg Berger (42):«Mit der Selektion geht viel Potenzial verloren»

Forschung, Lehrerinnen und Schulleiter fordern
Schluss mit Leistungsstufen in der Volksschule!

Unser Bildungssystem brauche eine radikale Veränderung, sagen Expertinnen und Experten. Die Schweiz soll aufhören, Kinder nach der Primarschule in Leistungsniveaus zu sortieren. Denn das schadet vielen Kindern – und unserer Volkswirtschaft.
Publiziert: 09.03.2024 um 12:03 Uhr
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Aktualisiert: 09.03.2024 um 12:19 Uhr
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Karen SchärerTeamlead Gesellschaft

Wer es wagt, sich kritisch über unsere Volksschule zu äussern, erntet oft heftige Reaktionen. So kürzlich wieder geschehen, als Blick mehrere Artikel zum Thema Schulnoten publizierte. Häufig heisst es in gehässigen Kommentaren aus der Leserschaft sinngemäss, die zitierten Expertinnen und Experten hätten keine Ahnung, seien Schreibtischtäter, sie verträten eine realitätsfremde Kuschelpädagogik. Oder sie werden geradezu als Nestbeschmutzer unseres Schulsystems dargestellt. 

Was aus Schule oder Wissenschaft an die Öffentlichkeit dringt und Kommentarfluten provoziert, ist nur die Spitze des Eisbergs. Hinter den Kulissen vernetzen sich Akteure aus dem Schulumfeld untereinander, aber auch mit Wirtschaft und Politik. Unter ihnen wächst die Überzeugung: Unser Bildungssystem muss sich verändern. «Es rumpelt wie noch nie», sagt eine Bildungsexpertin. 

Was ist falsch am Schulsystem?

Warum? Wo liegt das Problem? Dies sollen vier Personen mit dem geforderten «Stallgeruch» stellvertretend erklären. In langen Gesprächen haben sie zu diesem Artikel beigetragen. 

Nahe dran am Schulbetrieb: Jörg Berger ist Co-Schulleiter in Knonau und Geschäftsleitungsmitglied beim Verband Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz.
Foto: Linda Käsbohrer
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Da ist zunächst Jörg Berger (42), Co-Schulleiter an der Schule Knonau ZH und Geschäftsleitungsmitglied des Verbands Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz. «Wir sind das schlechteste Land der Welt», sagt Berger. Worauf er mit diesem knackigen Zitat abzielt und wie er drauf kommt, dazu später.

Zweitens ist da Katharina Maag Merki (60). Sie ist Bildungsforscherin am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich. Die ehemalige Primarlehrerin und heutige Hochschuldozentin sagt: «Es ist in den Köpfen drin, dass man eine Klasse unterrichtet. Dabei muss man Kinder unterrichten.» 

Rahel Tschopp (53), ausgebildete Primarlehrerin, Heilpädagogin, Schulleiterin und Expertin für Change Management, ist eine weitere Gesprächspartnerin. Sie berät mit ihrer Firma Denkreise Schulen im Wandel. Und sagt: «Wie Schule zu sein hat, ist in unserer kollektiven DNA gespeichert. Doch das System, in dem wir uns bewegen, macht die Leute kaputt. Es macht viele Kinder kaputt. Das können wir besser.»

Daniel Auf der Maur von der Stiftung Mercator will mit Evidenz zur Weiterentwicklung der Schule beitragen.
Foto: Linda Käsbohrer

Und dann ist da noch Daniel Auf der Maur (51), ehemaliger Oberstufenlehrer und Schulleiter, seit mehr als sechs Jahren bei der Stiftung Mercator Schweiz verantwortlich für das Programm Lernen der Zukunft. Er sagt: «Würden wir unser Schulsystem heute neu erfinden, sähe es ganz anders aus.» 

Das Thema Schule ist so reich an Facetten, dass es unüberschaubar erscheint. Stichworte mit Triggerpotenzial schwirren umher: Abschaffung der Noten, integrative Schule, Lehrpersonenmangel, Kleinklassen, Heterogenität, Kompetenzen, Lehrplan 21. Die vier geführten Gespräche kreisen jedoch bald um einen Aspekt: die Selektion. Die Aufteilung der Kinder in Leistungsklassen scheint die Ursache verschiedener Probleme zu sein. Eine Abkehr von der Selektion könnte der Hebel sein, der vieles in Bewegung setzt. Der Hebel, der unser Bildungssystem entscheidend verändern könnte.

Nach der Primarschule werden Kinder getrennt

Heute werden die Kinder nach der 6. Klasse in verschiedene Leistungsniveaus eingeteilt. Was uns ganz normal erscheint, ist es in Wirklichkeit nicht: Neben der Schweiz kennen nur Deutschland und Österreich eine so frühe Selektion in der obligatorischen Schulzeit. 

Jörg Berger will mit dem Dachverband der Schulleiterinnen und Schulleiter die Schule positiv nach aussen vertreten.
Foto: Linda Käsbohrer

Und hier erklärt sich Jörg Bergers scheinbar ungeheuerliche Aussage, wir seien das schlechteste Land der Welt: Wenigstens liege in unseren Nachbarländern der Selektionszeitpunkt vor der Pubertät, nämlich in der 4. Klasse, sagt er. Aus neurologischer Sicht ist das besser. Denn in der Schweiz steckt das Kind in der Pubertät, wenn die Einteilungsentscheide fallen.

Die Selektion findet also zu einem Zeitpunkt statt, zu dem die künftige Leistungsfähigkeit kaum zuverlässig vorausgesagt werden kann. Als wissenschaftlich etabliert gilt die Erkenntnis: Aus entwicklungspädiatrischer Sicht erfolgt die schulische Selektion in der Schweiz zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt. Was Schulleiter Berger zum vernichtenden Urteil über die Einteilung der Kinder in Leistungstypen veranlasst. 

Selektion verursacht volkswirtschaftlichen Schaden

Eine Studie der Strategieberatung Oliver Wyman hat Wirtschaft und Politik im Jahr 2023 aufgeschreckt: Auf bis zu 30 Milliarden Franken pro Jahr wird der Wohlstandsverlust geschätzt, den die Schweiz durch das Prinzip der Selektion erleidet. Unser viel gelobtes Schulsystem richtet also einen immensen volkswirtschaftlichen Schaden an. Wie kommt das? 

Es liegt daran, dass viele Kinder nicht nach ihren Fähigkeiten eingeteilt werden. Ganze 17 Prozent der Kinder, also etwa vier pro Schulklasse, werden einem zu tiefen Leistungsniveau zugeteilt. 

In ihrem Büro am Institut für Erziehungswissenschaft schiebt Katharina Maag ein Blatt Papier über den Tisch. Eine Grafik mit sich überschneidenden Kreisen. Sie zeigt, dass Jugendliche, die in einem tiefen Leistungszug eingeteilt sind, in standardisierten Tests oft besser abschneiden als Gleichaltrige, die als stärkste Schülerinnen und Schüler gelten. 

Durchlässigkeit: ein Mythos

Wer in der Sekundarstufe dem stärksten Schultyp zugeteilt ist und diesen mit schwachen Leistungen abschliesst, hat ganz andere – bessere – Perspektiven und Möglichkeiten als jemand, der mit sehr guten Leistungen aus der Realschule kommt. «Die Durchlässigkeit unseres Systems wird viel gepriesen», sagt Maag. Doch die Praxis zeige: Die Durchlässigkeit sei ein Mythos, Jugendliche blieben bildlich gesprochen im Zug, in den sie nach der Primarschule gesetzt würden. Das heisst: Die Weichen für die Zukunft werden grossmehrheitlich in der Primarschule gestellt. Und zwar oft falsch, wie wir nun wissen. 

Wissenschaftlerin Katharina Maag Merki erachtet es als dringlich, das Bildungssystem zu verändern.
Foto: Linda Käsbohrer

Das ist nicht nur volkswirtschaftlich ein Desaster. Die Selektion ist auch individuell schädlich und ungerecht. Denn Noten sind nie vergleichbar (eine mittelstarke Schülerin in einer schwachen Klasse wird sehr gute Noten bekommen; dieselbe Schülerin in einer starken Klasse eher schlechte). Und: Der Einfluss des familiären Hintergrunds auf Bildungsentscheidungen hat in den letzten Jahren noch zugenommen, wie Studien zeigen. «Leistung wird in vielen Bereichen mit Familie übersetzt», sagt Maag. Mit anderen Worten: Die Lehrpersonen wissen, was es an Unterstützung braucht, um das Gymnasium zu meistern, und berücksichtigen die Ressourcen im Elternhaus, wenn sie ihre Empfehlung oder ihren Entscheid für den Übertritt formulieren. 

Wissenschaftlerin Maag ist besorgt. «Wir hätten Kinder mit Potenzial und fördern sie nicht richtig. Und gleichzeitig reden alle vom Fachkräftemangel. Das passt einfach nicht zusammen. Wir können es uns als Gesellschaft nicht leisten, an diesem System mit seinen Fehlentscheidungen festzuhalten.» Für Katharina Maag steht fest: «Der Veränderungsdruck ist sehr, sehr hoch.»

Besser wäre Selektion am Ende der 9. Klasse

Verschiebt man den Zeitpunkt der Selektion nach hinten an das Ende der obligatorischen Schulzeit, gewinnen die Kinder und Jugendlichen Zeit. «So kann man während neun Schuljahren den Förderaspekt ins Zentrum stellen statt die Selektion», sagt Maag. Der frühe Druck fällt weg, die Jugendlichen bekommen Zeit, die eigenen Fähigkeiten und Interessen besser kennenzulernen. Dadurch verringert sich der Einfluss anderer Faktoren, etwa des Elternhauses. 

Der Kanton Tessin habe es als erster Kanton geschafft, sagt Schulleiter Berger. Für die Oberstufe, die Scuola media, ist keine Selektion notwendig. Alle besuchen weiterhin die gleiche Klasse. «Die Menschen, die dort Schule machen, werden im Moment überall eingeladen, um von ihren Erfahrungen zu berichten. Sie sagen: Es geht allen gut.» Berger spricht im Café beim Zürcher Central so engagiert über das Bildungssystem, dass sich eine Frau am Nebentisch ins Gespräch einmischt. Sie beklagt den hohen Druck an der Volksschule. 

Der Druck ist mit der Selektion eng verknüpft. Denn: Gäbe es keinen Übertrittsentscheid im letzten Jahr der Primarschule, wäre die Bedeutung der Noten viel geringer. Mehr noch: Es gäbe keinen Grund, die Leistungen eines Kindes im Vergleich zu seinen Klassen-Gschpänli mit Noten abzubilden. 

Zeugnisvorgabe der Kantone

Dass die Schulen heute von den Kantonen verpflichtet werden, zumindest ein- oder zweimal im Jahr Noten in den Zeugnissen zu erteilen, bezeichnet Schulentwicklerin Rahel Tschopp als «systemischen Bruch». Denn der Lehrplan 21 gibt nicht vor, was ein Kind exakt in welchem Halbjahr oder Jahr erlernen muss. Dass Kinder über- oder unterfordert sind, das wird ausgelöst durch die Zeugnisvorgaben. 

Rahel Tschopp wird an Schulen gerufen, die neue Wege beschreiten wollen.
Foto: Thomas Meier

In einer neuen Schulstruktur ohne Selektion nach der Primarschule könnten sich die Schülerinnen und Schüler individuell entfalten. Denn: Ihre persönliche Lernentwicklung ist relevant, nicht der Vergleich mit anderen. Die schulisch Stärkeren würden in ihrem Lernen auch nicht durch Schwächere ausgebremst, weil sich jedes Kind in einem persönlichen Lernprozess befindet. 

Und um gleich mit einem Missverständnis aufzuräumen: Der Verzicht auf Noten bedeutet nicht, dass es keine Beurteilungen gibt. «Natürlich bleibt die Schule leistungsorientiert; unsere Gesellschaft ist es ja auch», sagt Schulleiter Berger. Aber schwächere Schülerinnen und Schüler würden nicht mehr wie heute ständig schlechte Noten bekommen. Stattdessen würde die Lehrperson Fortschritte würdigen und aufzeigen, woran noch gearbeitet werden muss. 

Immense Kosten für Fördermassnahmen

«Heute funktioniert Schule falsch herum», sagt Daniel Auf der Maur. Man habe einen Rahmen, die Schule. Dann schaue man, ob das Kind hineinpasse. Wenn nicht, wird das Kind abgeklärt und bekommt Massnahmen verschrieben. Zum Beispiel Logopädie, Psychomotorik oder Heilpädagogik. «Stattdessen sollten wir zuerst schauen, was die Kinder brauchen. Und dann versuchen, ihnen diesen Rahmen zu geben.» 

Legt man den Fokus auf das Kind, gerät eine andere Tradition ins Wanken, die Katharina Maag als «rein administrativen Entscheid» bezeichnet: die Organisation der Kinder in Jahrgangsteams. Heute zeigt sich: Will man die Kinder eines Jahrgangs im Gleichschritt durch den Schulstoff bringen, ist das teuer.

Die Kosten für Begabungsförderung sind enorm. Denn die Heterogenität unter den Kindern eines Jahrgangs ist heute grösser als je zuvor. «Im Kindergarten haben wir Kinder, die noch nicht allein aufs WC gehen können, und andere, die schon lesen», sagt Rahel Tschopp. Diese riesengrosse Schere ziehe sich durch alle Altersgruppen durch. 

Genauso wie wir als Gesellschaft Integration hochhalten, sollte auch Schule in die Gemeinsamkeit führen, sagt Daniel Auf der Maur. Diesem Gedanken läuft die Praxis der Selektion aber zuwider: Indem Kinder früh in Leistungszüge aufgeteilt werden, fördere man das Trennende, das Schichten-Denken. 

Was Kinder brauchen, damit das Lernen funktioniert

Statt sich aufs Bewerten des Fachlichen zu versteifen, solle man sich lieber darauf besinnen, was Kinder brauchen, damit das Lernen funktioniert. Dazu gehört zum Beispiel das psychologische Bedürfnis, sich sozial zugehörig zu fühlen. Sich als selbstwirksam zu erleben. Autonom handeln zu können.

Lehrpersonen und Ausbildende in Lehrbetrieben stellen heute im Gespräch mit Jugendlichen fest: Ihnen fällt es schwer, auf die scheinbar einfache Frage zu antworten: «Worin bist du gut?» Daniel Auf der Maur sagt: «Wie sollen Jugendliche das auch können, wenn wir ihnen ständig sagen, was sie wie zu tun haben und wo ihre Defizite liegen?» Eine bittere Erkenntnis, wäre doch Persönlichkeitsentwicklung in Zeiten, in denen vieles unsicherer geworden ist, nötiger denn je zuvor. 

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