«Der geschriebene Stoff spricht die meisten Sinne an»
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Bestsellerautorin über Stoffe:«Der geschriebene Stoff spricht die meisten Sinne an»

Interview mit Bestsellerautorin Monika Helfer
«Was über Sex geschrieben wird, ist zum Wegschmeissen»

Hohe Ehre in Hohenems (A): Die österreichische Bestsellerautorin Monika Helfer (76, «Die Bagage») empfängt in ihrem Zuhause und spricht über gewobenen, beschriebenen und gerauchten Stoff.
Publiziert: 24.03.2024 um 10:53 Uhr

Frau Helfer, ein Gespräch mit Ihnen über Stoffe ist eine vielschichtige Sache.
Monika Helfer: Weshalb meinen Sie?

Ich kann mit Ihnen über Texte und Textilien reden – eben haben Sie das Buch «Der Stoff» veröffentlicht, worin Sie Ihre Leidenschaft für Samt, Seide und Co. schildern.
Bereits als Zwölfjährige ging ich in Wien ins Stoffgeschäft Bottoni zu Frau Elfriede. Sie war Italienerin, begrüsste mich jeweils freundlich mit «Piccola» und liess mich in ihren Stoffen wühlen.

Sie beschreiben das sehr anschaulich: «Ich schob meine Hände zwischen die kühlen Lagen und zog daran und rollte ein wenig auf. Es war wie Händewaschen.» Kennen Sie das Gefühl heute noch?
Ja, das ist bei Seide so: Wenn man mit der Hand da drunter durchstreicht, dann ist das so kühl, einfach wunderbar.

«Selbst dieses Stück, das ich hier trage, habe ich schwarz gefärbt»: Monika Helfer über Secondhand-Kleider.
Foto: Philippe Rossier

Interessierten Sie sich damals mehr für das Gefühl bei der Berührung als für Farben und Muster?
Für die Farben habe ich mich schon auch interessiert, aber in erster Linie doch für die Stoffqualität.

Lässt sich die erfühlen?
Ja, absolut. Die halbsynthetische Chemiefaser Viskose ist zum Beispiel nicht schlecht, hat aber nie die Qualität von Naturfasern wie Baumwolle oder Seide.

Von Elfriede bekamen Sie jeweils kleine Stofffetzen und sammelten sie im «Monika Helfer Stoffheft eins». Haben Sie das noch?
Jaja, das habe ich immer noch. Allerdings habe ich es zurzeit einer Fotografin ausgeliehen. Das ist in der Grösse DIN-A4. Pro Seite habe ich drei Stoffe eingeklebt und darunter geschrieben, welche Art von Stoff es ist.

Gab es danach auch ein «Stoffheft zwei»?
Nein, das erste ist so dick, das reichte dann. Das habe ich den 1950er- und 1960er-Jahren erstellt – als ich dann 18 Jahre alt war, hörte ich damit auf.

Wollten Sie als Kind Schneiderin werden?
Nein, nie. Obwohl ich später viel genäht habe, weil wir nicht viel Geld hatten: Ich habe alte Kleider gekauft und immer die Knöpfe ausgewechselt. Und ich habe auch sehr viel gefärbt. Selbst dieses Stück, das ich trage, habe ich schwarz gefärbt – es war grossmustrig, aber das mag ich nicht.

Im Buch offenbaren Sie ein Geschick, Secondhandkleider aufzuhübschen.
Ja, ich bin geschickt darin, aber ich kann nicht schön nähen. Wie die Rückseite aussieht, ist mir egal, sie darf einfach nicht aufgehen. Schneiderin zu sein, ist sehr aufwendig: Man braucht Adleraugen und sitzt immer gebückt über der Maschine – nein, ich wollte immer schreiben.

Wann nahmen Texte im Vergleich zu Textilien überhand?
Der Anbeginn des Schreibens war der Tod meiner Mama, als ich elf Jahre alt war. Das war für uns Kinder ein Schock, den jedes auf seine Art verarbeitete – mein Bruder hat sich später das Leben genommen; und ich begann, auf Zettel Texte zu schreiben. Das war für mich nicht Literatur, ich sah es als Trostzettel.

Monika Helfer

Die österreichische Schriftstellerin Monika Helfer kommt 1947 in Au (Vorarlberg) zur Welt. Sie wächst in ärmlichen Verhältnissen mit fünf Geschwistern auf. Als sie elf Jahre alt ist, stirbt die Mutter. Seit 1977 veröffentlicht Monika Helfer Kinderbücher, Erzählbände, Romane, Theaterstücke und Hörspiele, wofür sie zahlreiche Preise bekam, darunter 2016 das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse und 2020 den Solothurner Literaturpreis. Mit «Die Bagage» (2020) avancierte Helfer auch in der Schweiz zur Bestsellerautorin. Sie bringt vier Kinder auf die Welt, zwei in erster Ehe, zwei mit dem Schriftsteller Michael Köhlmeier (74), den sie 1981 heiratet. Gemeinsam leben sie in Hohenems (A) und Wien.

Philippe Rossier

Die österreichische Schriftstellerin Monika Helfer kommt 1947 in Au (Vorarlberg) zur Welt. Sie wächst in ärmlichen Verhältnissen mit fünf Geschwistern auf. Als sie elf Jahre alt ist, stirbt die Mutter. Seit 1977 veröffentlicht Monika Helfer Kinderbücher, Erzählbände, Romane, Theaterstücke und Hörspiele, wofür sie zahlreiche Preise bekam, darunter 2016 das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse und 2020 den Solothurner Literaturpreis. Mit «Die Bagage» (2020) avancierte Helfer auch in der Schweiz zur Bestsellerautorin. Sie bringt vier Kinder auf die Welt, zwei in erster Ehe, zwei mit dem Schriftsteller Michael Köhlmeier (74), den sie 1981 heiratet. Gemeinsam leben sie in Hohenems (A) und Wien.

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Hatten diese Zettel eine ähnliche Funktion wie das Stoffheft?
Genau. So wie Stoffe ein gewisses Gefühl vermitteln, so habe ich damals meine Gefühle in Worte gefasst – Literatur ist der Stoff, aus dem das Leben ist. Wir erfinden ja nichts im Leben. Es ist ein Suchen und Finden und ein Wiedergeben.

In Ihrer Roman-Trilogie «Die Bagage», «Vati» und «Löwenherz» geben Sie Ihre Familiengeschichte wieder – Ihr literarischer Durchbruch.
Ich bin richtig durchgestartet. 

Hat Sie der Erfolg mit «Die Bagage» aus dem Jahr 2020 verblüfft?
Total, ich habe das nicht erwartet.

Aber die Trilogie mit den Folgebänden «Vati» und «Löwenherz» war schon angelegt?
Nein, das war damals nicht geplant und kam erst mit dem Erfolg von «Die Bagage». Bis dorthin habe ich pro Buch tausend bis zweitausend Stück verkauft – mehr waren es selten.

Und von «Die Bagage» hunderttausend?
Mindestens! Seit ich diese autofiktionalen Bücher schreibe, habe ich den Eindruck, dass die Leute verrückt danach sind. Das liegt vermutlich daran, dass sie merken: Ich habe ja auch eine eigene Geschichte. 

«Die Leute sind verrückt danach»: Monika Helfer über ihren Erfolg mit dem autofiktionalen Roman «Die Bagage».
Foto: Philippe Rossier

Wie zeigt sich das konkret?
Viele schieben ihr Leben weg. Und nun kommen Frauen zu mir und sagen: «Ich schreibe jetzt auch meine Geschichte auf. Oder wollen Sie meine Geschichte aufschreiben?» Dann sage ich: «Nein, das müssen Sie schon selber machen.»

Bei Stoffen gibt es Moden. Haben Sie mit dem autofiktionalen Stoff eine literarische Mode kreiert?
Ich habe den Trend beschleunigt. Die Nobelpreisträgerin Annie Ernaux hatte schon früher autofiktional geschrieben, Kim de l’Horizon machte das nachher – es hat einen richtigen Boom gegeben.

«Mit den Sätzen verhält es sich wie mit den Kleidern», schreiben Sie in «Der Stoff». «Sie verbergen und sie verraten, und oft verbergen sie, indem sie verraten, und oft ist es umgekehrt.» Ist literarischer Stoff ein Kleid für eine Schriftstellerin?
Ja, so kann man das sehen. Und oftmals frage ich mich, ob mir das steht. Etwa, wenn es um die Beschreibung von Sexualität geht: Was über Sexualität geschrieben wird, ist zu 99 Prozent der Fälle zum Wegschmeissen.

Weshalb?
Es ist immer so peinlich, allein schon die Benennung der Geschlechtsorgane. Und wenn man es so klar wie möglich macht, dann wirkt es klinisch-medizinisch.

Lassen einen autofiktionale Bücher wie «Die Bagage» zuweilen nackt erscheinen, weil jeder unter dem Text die Autorin zu sehen vermeint?
Ja, es ist ein bisschen wie im Märchen «Des Kaisers neue Kleider» von Hans Christian Andersen, das ich in «Der Stoff» thematisiere – man gibt sich bis zu einem gewissen Mass eine Blösse.

Sie schreiben, dass Andersen das Märchen aus zweiter Hand hatte. Ist Literatur also auch die Secondhand-Verarbeitung von Stoffen?
Sehr oft. Und das ist ja nichts Schlechtes, wenn man einen Stoff aufgreift und neu interpretiert.

Bei Secondhand-Kleidern: Stört Sie da nicht der Geruch der Person, die das Stück zuvor getragen hat?
Doch, das ist ein Problem – deshalb kaufe ich auch keine Secondhand-Schuhe, weil ich die nicht waschen kann. Einen Mantel, den ich secondhand kaufe, gebe ich in die Reinigung.

Wie bringen Sie Gerüche aus Textilien?
Ein guter Trick ist, den Stoff über die Heizung zu legen – die Wärme nimmt die Gerüche weg. Das mache ich bei der Kleidung meines Mannes so. Und dann besprühe ich sie noch mit seinem Parfüm.

Bringen Sie die Kleidung nicht in die chemische Reinigung?
Ich gebe Kleider ungern in die chemische Reinigung, denn danach riechen die Stoffe auch wieder seltsam. Man hat das Gefühl, dass man kaum Luft kriegt.

Diese Probleme gibt es nicht bei gedruckten Büchern – die riechen auch in altem und gebrauchtem Zustand gut.
Wenn ich wegfahre, nehme ich meinen Kindle mit, weil ich nicht so viele Bücher mitnehmen kann. Aber gedruckte Bücher riechen schon toll.

«Man hat das Gefühl, dass man kaum Luft kriegt»: Monika Helfer über Kleider aus der chemischen Reinigung.
Foto: Philippe Rossier

Und wenn die Buchdeckel noch in Leinenstoff eingefasst sind, fühlen sie sich auch noch gut an.
Leineneinbände oder Fadenbindungen gibt es heute leider kaum mehr. Die sind zu teuer. Dafür gibt es heute richtig hässliche Bücher, die sind Junk – da müsste man einen Hamburger essen dazu.

Haben Sie als Autorin Einfluss auf die Buchgestaltung?
Weil ich seit der «Bagage» sehr viele Bücher verkauft habe, darf ich mitreden. Und dann sage ich, ich will das so, ich will mitbestimmen.

Damit der literarische Stoff eine sinnliche Ebene bekommt?
Beim Schreiben gibt es diese Ebene nicht, aber beim Lesen. Mein Mann las einmal die «Die Familie Moschkat» von Isaac Bashevis Singer. Und dann kam er irgendwann in die Küche und fragte: «Haben wir Pflaumen da?» Er bekam Lust auf Pflaumen, weil er davon las.

Aber das ist ein Zwischenschritt: Er musste das gedanklich verarbeiten.
Gewiss, aber wenn ein Text einen nicht sinnlich anspricht, dann ist etwas faul.

Genau: Wenn ich zum Beispiel französische Literatur lese, bekomme ich zuweilen Lust, dazu französischen Wein zu trinken.
Wunderbar! Wenn Sie das machen, sind Sie ein verspielter Mensch – nüchterne Menschen machen das eher nicht.

«Wunderbar! Wenn Sie das machen, sind Sie ein verspielter Mensch»: Monika Helfer im Gespräch mit Daniel Arnet.
Foto: Philippe Rossier

Damit wären wir bei der dritten Ebene vom Stoff: den Drogen …
… ich hätte gerne auch darüber geschrieben, aber die Verlegerin wollte, dass das Buch nicht länger wird.

Sie schreiben dafür: «Als junge Frau fühlte ich mich den Hippies verbunden, deshalb nähte ich mir weite Schlaghosen aus Vorhangstoffen, mit Blumenmustern.» Bei den Hippies waren noch andere Stoffe in Mode – haben Sie damals Drogen konsumiert?
LSD habe ich nie genommen, aber Cannabis habe ich hin und wieder konsumiert, selber angebautes, nicht zu vergleichen mit den Bomben, die man heute raucht. Ich habe immer gewusst, dass ich Kinder haben möchte, und da haben mich harte Stoffe geschreckt, weil ich nichts riskieren wollte. Haben Sie Drogen genommen?

Nein, vielleicht war ich zu wenig mutig. Aber dem Alkohol bin ich bei Gelegenheit – wie gesagt – zugetan.
Ja, ich mag Alkohol, nicht suchtmässig, er sollte eine gewisse Qualität haben.

Brauchen Sie ihn auch als Treibstoff beim Schreiben?
Beim Schreiben brauche ich einen klaren Kopf, da genügt mir starker Kaffee.

An welchem Stoff arbeiten Sie momentan?
Im Herbst erscheint ein Band mit Erzählungen – er wird heissen: «Wie das Leben weiterging – Geschichten für jeden Tag.»

zVg
Monika Helfer

«Der Stoff» aus der Reihe «Dinge des Lebens», Residenz.

zVg

«Der Stoff» aus der Reihe «Dinge des Lebens», Residenz.


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