Mit Islam Alijaj (37) in Bundesbern
«Mein Weg begann mit der Arschkarte»

Er ist behindert, Secondo und Nationalrat: Wir haben Islam Alijaj (37) an seine erste Session in Bern begleitet. Vom Traum der Inklusion, Cappuccino mit Röhrli und einem Mann, der stellvertretend für 22 Prozent der Bevölkerung steht.
Publiziert: 16.12.2023 um 16:23 Uhr
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Aktualisiert: 17.12.2023 um 18:33 Uhr
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Lea ErnstRedaktorin Gesellschaft

Auf Gleis 31 bricht das Chaos aus. Zürich Hauptbahnhof, kurz vor sieben Uhr morgens. Islam Alijaj (37) lenkt seinen Rollstuhl durch die unzähligen Pendlerinnen und Pendler. Den Perron rauf und runter, vergeblich hält er Ausschau nach einem Menschen in Leuchtweste.

Diesen bräuchte er dringend, für die Rampe, mit der er in den Zug gelangen kann. Jede Fahrt muss er bei der SBB anmelden. Doch selbst die Bestätigung auf seinem Handy ist keine Garantie dafür, dass das auch wirklich klappt.

Alijaj wird nervös. Diesen Zug darf er nicht verpassen. Im Gewusel entdeckt er den Lokführer, fragt, wo denn die Betreuungsperson warte. Gleise quietschen, Lautsprecher quasseln. Der Lokführer blickt unwirsch zu ihm herunter. Es ist eindeutig: Lust, diesem schwer verständlichen Mann im Rollstuhl zu helfen, hat er so früh morgens keine.

Islam Alijaj in Bern. Schon ohne Behinderung ist der Pendelverkehr stressig. Mit Behinderung gleicht er einem Marathon, bevor der Arbeitstag überhaupt richtig angefangen hat.
Foto: Lea Ernst
«Jeder Mensch hat einen Mehrwert für die Gesellschaft»
1:05
Neu-Nationalrat Islam Alijaj:«Jeder Mensch hat einen Mehrwert für die Gesellschaft»

Dabei trägt Alijaj heute seinen schönsten Anzug. «Wenn ich schon behindert bin, kann ich dabei wenigstens gut aussehen», hat er vorhin gesagt und verschmitzt gegrinst. Die Anmeldung sei wohl untergegangen, sagt der Lokführer. Wenn er könne, solle er doch eine spätere Verbindung nehmen. Aber Alijaj kann nicht. Um acht muss er in Bern sein, dann fängt im Bundeshaus die Session an. Islam Alijaj ist Nationalrat.

Der Secondo im Rollstuhl

95'054: So viele Zürcher Stimmen haben den SP-Politiker im Oktober vom Listenplatz Nummer 11 direkt in den Nationalrat katapultiert. Obwohl Alijaj Migrationshintergrund hat. Obwohl er Islam heisst, ausgerechnet. Obwohl er eine schwere Sprech- und Körperbehinderung hat. Oder gerade deswegen.

Alijaj ist der erste Nationalrat mit einer sogenannten Cerebralparese. Weil sein Gehirn bei der Geburt für kurze Zeit zu wenig Sauerstoff erhielt, ist die Muskelsteuerung beeinträchtigt. Seine kognitiven Fähigkeiten blieben intakt, doch sind seine Glieder von Spasmen verkrampft. Wenn er spricht, hört man die Anstrengung, die er braucht, um die Sätze zu formen. Ihm zuzuhören, erfordert Konzentration. Doch es lohnt sich: Seine Worte sind klug gewählt und schlagfertig.

Nationalrat Alijaj ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Foto: Lea Ernst

Am 4. Dezember wurde Islam Alijaj vereidigt. Seither debattiert er, bringt sich ein, entscheidet. Unter anderem, wer neuer Bundesrat wird. Am Mittwoch dabei zu sein, war für ihn ein ganz besonderer Moment: «Ich bin mir sicher, dass Beat Jans ein hervorragender Bundesrat wird.»

Nach dem abschätzigen Blick des Lokführers kommt eine junge Frau vorbei, um zur Wahl zu gratulieren. Alijaj wohnt in Zürich, ist verheiratet und Vater zweier Kinder. «Noch viel zu oft werden wir Behinderte als hilflose Geschöpfe wahrgenommen.» Er findet: Es ist höchste Zeit für ein Umdenken.

Träume: gross – Mitbestimmung: klein

«Mein Weg begann mit der Arschkarte», schreibt Alijaj in seinem Buch «Wir müssen reden». Geboren wurde er in einem kleinen Dorf im Kosovo. Dort, wo Menschen mit Behinderungen zu Hause versteckt werden. Als er ein Jahr alt ist, ziehen seine Eltern in die Schweiz, nach Zürich-Albisrieden. Nur wenige Jahre vor dem blutigen Krieg, der ihre frühere Heimat zerstören sollte.

«Im Kosovo wäre ich verkümmert», ist sich Alijaj sicher. Hier in der Schweiz werden seine Beine operiert, er besucht die Sonderschule, wird von seinen Eltern gefördert. Mit seinem ersten Rollstuhl kommt er weiter, aber eben nicht weit genug. «Ich wollte nicht behindert sein, das war für mich immer ein Gefängnis.»

Trotzdem träumt er gross, will Wirtschaft studieren, Unternehmer werden. Doch mit sechzehn ist er auf dem schulischen Level eines Zwölfjährigen. Er ist unterfordert, bekommt aber nicht mehr Schulstoff, weil sie als Klasse gemeinsam vorankommen sollen.

Alijaj weiss: Wenn er nicht in einer Institution landen will, muss er handeln. Sofort. Hinter dem Rücken seiner Lehrerin löst er zu Hause so viele Aufgaben, wie er nur kann. Und holt drei Schulklassen auf. Er macht eine Büro-Anlehre – gegen seinen Willen in einem geschützten Bereich, holt danach das «normale» KV nach.

«Islam, du spinnst!»

Statt Erleichterung erwartet Alijaj beim Lehrabschluss Frust. Trotz guter Noten raten ihm Arbeitgeber sowie IV von einem Studium ab. «Kein Wunder, ich war ein pflegeleichter Mitarbeiter, mein Arbeitgeber hätte mit meinen IV-Beiträgen richtig abkassieren können», vermutet er heute. Die IV hätte ihm nach dem Studium einen höheren Beitrag bezahlen müssen.

«Genau solche finanziellen Fehlanreize werden für viele Menschen mit Behinderungen zum Problem», sagt Alijaj. Das Lehrabschlussgespräch politisiert ihn. Er wehrt sich, will auf eigene Füsse kommen, um jeden Preis. Macht eine Weiterbildung zum Webentwickler und trägt zum Reinigungsunternehmen seiner Familie bei, so viel er kann.

Alijaj im Büro der Reinigungsfirma seiner Familie. Hier arbeitet er oft, wenn er nicht in Bern ist.
Foto: Lea Ernst

Bald gründet er Behindertenorganisationen – für Selbstbestimmung statt Bevormundung. Dort knüpft er erste Kontakte in die Politik. Sein Migrationshintergrund spielt nie eine grosse Rolle. Er sagt: «Meine Behinderung überstrahlt alles.»

2017 tritt er der SP Zürich bei, kandidiert für den Gemeinderat. Beim zweiten Versuch 2022 wird er überraschend gewählt, erweist sich als geschickter Politiker. Sein Ziel: Nationalrat. «Alle sagten mir: Islam, du spinnst.»

Die Schweiz hat verschlafen

Die Zugtüren piepen. In letzter Minute findet Alijaj zwei Billettkontrolleure, die ihm die Rampe in das Rollstuhlabteil legen können. Seine Anmeldung ist tatsächlich vergessen gegangen. «Das ist der Klassiker», sagt er, nachdem er sich endlich zwischen die Sitze manövriert hat.

Schon ohne Behinderung ist der Pendelverkehr stressig. Mit Behinderung gleicht er einem Marathon, bevor der Arbeitstag überhaupt richtig angefangen hat.

Über eine Rampe oder einen Mobillift gelangt Alijaj in das Rollstuhlabteil.
Foto: Lea Ernst

«Was willst du noch, sei doch froh darüber, wie gut du es hier hast»: Solche Kommentare hört er immer wieder. «Dabei haben wir Menschen mit Behinderungen Rechte», sagt er nachdrücklich. Damit meint er die Gesetze, die dafür sorgen sollen, dass Benachteiligungen ausgeglichen werden.

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«Ich stehe stellvertretend für einen grossen Teil der Bevölkerung.»
Islam Alijaj, Nationalrat
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Wie das 2003 beschlossene Behindertengleichstellungsgesetz, das den öffentlichen Verkehr für alle zugänglich machen sollte. Damals ein Meilenstein. Heute ein Wunschdenken, sagt Alijaj: So läuft Ende Jahr die Frist aus, in der der komplette Schweizer ÖV barrierefrei werden sollte.

Auch mit SBB-Bestätigung ist nie klar, ob Alijajs Reise klappt.
Foto: Lea Ernst

«Das hat nicht geklappt, bloss interessiert es niemanden.» Als Beweis reicht ein einziger Morgen mit ihm im Pendelverkehr. Ganz zu schweigen von den Zürcher Trams, von denen ein Grossteil überhaupt nicht behindertengerecht ist.

Alijaj ist ungeduldig. Er will nicht länger warten, warten auf mehr. Kommende Woche reicht er deshalb seinen ersten Vorstoss ein: Solange der ÖV nicht wie vereinbart barrierefrei zugänglich ist, soll der Staat die Transportkosten von Menschen mit Behinderungen übernehmen.

22 Prozent der Bevölkerung haben eine Behinderung

«Hey, Islam!» In der Berner Unterführung spricht ihn ein junger Mann an, ebenfalls im Rollstuhl. «Ich bin so stolz, ich glaube an dich.» Er legt seine Hand auf Alijajs Schulter. Denn, so hat der Nationalrat vorhin im Zug gesagt: «Ich stehe stellvertretend für einen grossen Teil der Bevölkerung.» Es ist diese Dringlichkeit des Themas, mit der er sich seinen kometenhaften Aufstieg erklärt.

«Islam, ich bin so stolz», sagt ihm ein Mann im Rollstuhl in Bern.
Foto: Lea Ernst

In der Schweiz leben rund 1,8 Millionen Menschen mit einer Behinderung – das sind 22 Prozent der Bevölkerung. Trotzdem habe man sich bisher viel zu wenig damit auseinandergesetzt. «Es ist schon verrückt», sagt Alijaj. «Die Bauernlobby nimmt im Parlament rund 20 Prozent ein.» Obwohl nicht einmal 3 Prozent der Bevölkerung Bäuerinnen und Bauern sind. «Im Vergleich dazu sind Menschen mit Behinderungen geradezu dramatisch unterrepräsentiert.»

1,8 Millionen Schweizer haben eine Behinderung

Fast ein Viertel der Schweizer Bevölkerung lebt mit einer Behinderung: Gemäss Bundesamt für Statistik sind es 22 Prozent. Ein Drittel davon gilt als stark beeinträchtigt – lebt also in Heimen oder spezialisierten Institutionen, weil es zu Hause zu schwierig oder nicht mehr möglich ist. Ob körperlich oder kognitiv: Manchen Menschen sieht man ihre Behinderung auf den ersten Blick an, bei anderen ist sie unsichtbar. Wiederum andere haben gelernt, sie gut zu verstecken. Auf Barrieren stossen sie vermutlich alle.

Fast ein Viertel der Schweizer Bevölkerung lebt mit einer Behinderung: Gemäss Bundesamt für Statistik sind es 22 Prozent. Ein Drittel davon gilt als stark beeinträchtigt – lebt also in Heimen oder spezialisierten Institutionen, weil es zu Hause zu schwierig oder nicht mehr möglich ist. Ob körperlich oder kognitiv: Manchen Menschen sieht man ihre Behinderung auf den ersten Blick an, bei anderen ist sie unsichtbar. Wiederum andere haben gelernt, sie gut zu verstecken. Auf Barrieren stossen sie vermutlich alle.

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Zwei Dinge hätten alle 22 Prozent gemeinsam: Ihre Behinderung kostet sie Kraft. Und viel zu oft werde über ihren Kopf hinweg entschieden. Mit Alijaj sitzen auch die Nationalräte Christian Lohr (61, Die Mitte) sowie der nach seinem Skiunfall gelähmte Philipp Kutter (48, Die Mitte) im Rollstuhl. Alijaj sagt: «Ob Unfall, Krankheit oder eine Behinderung des eigenen Kinds – es kann so schnell gehen, und man ist selber betroffen.»

Die Zeit für mehr Mitsprache ist reif, das zeigte auch die erste Behindertensession, die im März 2023 im Bundeshaus stattfand. Der Tenor: Um Gleichbehandlung, Miteinbezug und faire Chancen ist es in der Schweiz schlecht bestellt.

Er hatte eines der höchsten Wahlkampfbudgets

Eine Behinderung kostet Geld, das weiss Alijaj. Bei vielen Tätigkeiten braucht er Unterstützung. «Damit ich auf dem gleichen Level wie Nichtbehinderte arbeiten kann, bedarf es mehr Aufwand.» Mit rund 196’000 Franken gehörte sein Wahlkampfbudget deshalb zu den höchsten.

Zu den Geldgebern gehörten neben seiner Familie auch die Organisation Pro Infirmis, die sich für Menschen mit Behinderungen einsetzt. Auch Breitling-Marketingchef David Schärer finanzierte als privates Engagement eine Werbekampagne.

Alijaj am Empfangstag der neu gewählten Ratsmitglieder.
Foto: keystone / Peter Klaunzer

Bei seinem Amt unterstützen Alijaj abwechselnd drei Assistentinnen: Sie wiederholen seine Voten, damit sie fürs Plenum verständlich sind. Sie führen für ihn Telefonate, er diktiert ihnen E-Mails und Whatsapp-Nachrichten. Die IV kann die Mehrkosten für sein Amt nicht übernehmen – auch das will der Nationalrat bald ändern.

Bis es so weit ist, werden die Mehrkosten aus dem Budget für den Parlamentsbetrieb, also von Steuergeldern, bezahlt. Alijaj betont: «Alle Menschen sollten ihr politisches Mandat ausüben können.»

Islam Alijaj und seine Assistentin Gloria Fischer im Bundeshaus.
Foto: keystone / Peter Klaunzer

«Welchen Lift nimmst du?», fragt Alijajs Bekannter im Berner Bahnhof. Die beiden rollen in Richtung Ausgang und hinein in den Lift, der oft nach Urin stinkt und von Menschen ohne Behinderung, Gepäck, Velo oder Kinderwagen selten betreten wird. Durch den Nebel geht die Sonne auf. Es ist kurz vor acht.

Seine Kinder verteilten für ihn Flyer

Und dann sitzt Alijaj endlich im Bundeshaus. Er trinkt den Cappuccino mit Röhrli, begrüsst seine neuen Kolleginnen und Kollegen. «Es war ein irrer Mix der Gefühle, als ich gewählt wurde», erzählt er. Er habe kaum glauben können, was da gerade passiert war. «Gleichzeitig fühlte es sich an wie ein Ankommen.»

Besonders gefreut hat sich seine Familie: Seine Eltern, die sofort alle Verwandten im Kosovo angerufen haben, um zu berichten, was aus dem kleinen Islam geworden ist. Seine Frau Gjeva (35), mit der er seit elf Jahren verheiratet ist. Seine Tochter Gjeneta (6), sein Sohn Bakir (9), die sich schon vor dem Wahlkampf darauf gefreut hatten, wieder für ihren Vater Flyer zu verteilen.

Die Familie Alijaj: Islam und seine Frau Gjeva mit ihren Kindern Gjeneta (6) und Bakir (9) in den Türkei-Ferien 2022.
Foto: zVg

Früher sei er für seine Kinder ein ganz normaler Papi gewesen, sagt Alijaj. «Doch je älter sie werden, desto öfter werden sie mit diesem Bild des hilflosen Geschöpfs konfrontiert.» Einerseits macht ihm das Angst, andererseits spornt es ihn an. Islam Alijaj ist Nationalrat. Er will mitbestimmen. Geschichte schreiben. «Das schulde ich allen, die mich bis hierher gebracht haben. Mein gesamter Erfolg gehört nur ihnen.»

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