Philosophin Barbara Bleisch
«Wir sollten voller Freude auf die fünfzig anstossen»

Philosophin Barbara Bleisch widmet sich in ihrem neusten Buch der Lebensphase zwischen 40 und 65. Ein Gespräch über Krisen, Sehnsüchte und Bedauern – und warum die mittleren Jahre doch die besten sind.
Publiziert: 20.07.2024 um 19:15 Uhr
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Aktualisiert: 20.07.2024 um 21:56 Uhr
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Karen SchärerTeamlead Gesellschaft

Barbara Bleisch, Sie gehören nicht zu jenen Frauen, die ihr Alter verschweigen.
Barbara Bleisch: Stimmt. Und es befremdet mich auch immer, wenn andere einen jünger machen und das als Kompliment verstehen. Zum Beispiel, indem sie scherzhaft zum dreissigsten Geburtstag gratulieren. Dabei sollte man voller Freude auf die vierzig oder fünfzig anstossen! 

Dabei heisst es doch schon: Fünfzig ist das neue dreissig.
… oder sogar neuerdings: Sechzig ist das neue dreissig. Einerseits natürlich schön, wenn sich die Menschen noch so fit fühlen. Aber andererseits tun wir so, als gälte es, die mittleren Jahre zu überspringen – und als wollten wir gar nicht aus dieser Fülle schöpfen, die sie uns schenken. Das ist doch traurig! Ich möchte nicht mehr dreissig sein, auch wenn vieles wunderbar war.

Ich habe mich mit vierzig besser gefühlt als mit dreissig. Gefestigter, mehr bei mir.
Ja, ich mich auch.

Barbara Bleisch schreibt in ihrem neuen Buch über das mittlere Alter.
Foto: Mirjam Kluka
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Die Mitte des Lebens scheint ambivalent. Einerseits mogeln sich manche jünger, andererseits gilt man als im besten Alter. Was stimmt denn nun?
Äusserliche Attraktivität verbinden viele mit Jugendlichkeit. Wir Frauen fürchten vielleicht stärker als Männer, mit zunehmendem Alter unsichtbar zu werden, als würden wir automatisch eine graue Maus. Wobei ich es sehe wie Elke Heidenreich, die gerade ein Buch über das Altern geschrieben hat: Das ist ein Stück weit eine Entscheidung. Und was Lebenserfahrung und Souveränität anbelangt, beginnt doch in der Mitte erst die Blütezeit!

Nahbare Philosophin

Barbara Bleisch (51) ist Philosophin, Autorin zahlreicher Bücher, Journalistin und Dozentin für Ethik an verschiedenen Hochschulen. Ihr neustes Buch «Mitte des Lebens» (Hanser) erscheint am 22. Juli. Einem breiten Publikum wurde sie ab 2011 als Moderatorin der SRF-Sendung «Sternstunde Philosophie» bekannt, zudem ist sie regelmässig am Samstag in der Philosophiesendung «Giiget’s?» auf SRF 3 zu hören. Barbara Bleisch lebt mit ihren zwei Töchtern und ihrem Mann in der Stadt Zürich.

Barbara Bleisch (51) ist Philosophin, Autorin zahlreicher Bücher, Journalistin und Dozentin für Ethik an verschiedenen Hochschulen. Ihr neustes Buch «Mitte des Lebens» (Hanser) erscheint am 22. Juli. Einem breiten Publikum wurde sie ab 2011 als Moderatorin der SRF-Sendung «Sternstunde Philosophie» bekannt, zudem ist sie regelmässig am Samstag in der Philosophiesendung «Giiget’s?» auf SRF 3 zu hören. Barbara Bleisch lebt mit ihren zwei Töchtern und ihrem Mann in der Stadt Zürich.

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Viele Menschen fühlen sich in diesen Lebensjahren aber aufgerieben zwischen beruflichen und privaten Pflichten, haben vielleicht mit lebensbedrohlichen Erkrankungen zu kämpfen. Darf man da vom besten Alter sprechen?
Ein gutes Leben ist philosophisch betrachtet nicht dasselbe wie ein glückliches Leben.

Sondern?
Zu einem guten menschlichen Leben gehören Trauer und Schmerz dazu. Dunkle Gefühle sind oft die Kehrseite davon, dass wir riskieren und lieben. Mich hat ausserdem interessiert, was mit diesen «besten Jahren» gemeint sein kann. Immerhin sind wir nicht nur älter geworden, sondern hoffentlich auch lebenserfahrener und souveräner, sodass wir uns in dieser Phase oft fragen: Was will ich wirklich?

Die existenziellen Fragen stürzen viele aber auch in eine Krise.
Die Mitte des Lebens ist für viele eine Zeit der Bilanzierung und tatsächlich krisenanfällig. Aber darin liegt auch eine Chance.

Wie meinen Sie das?
Der Philosoph Karl Jaspers hat die Krise als «Existenzerhellung» bezeichnet: Sie zwingt uns, über das eigene Leben nachzudenken.

Ein Beispiel?
Krisen können Anlass sein, sich über die eigenen Bedürfnisse klar zu werden. Nehmen wir eine Langzeitbeziehung: Vielleicht stecken wir fest in lähmender Routine, haben den Eindruck, uns gegenseitig zu verzwergen. Manche schätzen dagegen die Kehrseite der Routine: den Halt. Die Kostbarkeit, sich zu kennen. Die Vertiefung, die entstanden ist, weil man schon so lange zusammen unterwegs ist. Gelingt es uns, im Bleiben die Freiheit zu sehen? Oder haben wir in der Beziehung alle Lebendigkeit verloren?

Viele sitzen im mittleren Alter da und fragen sich: Wars das jetzt schon?
Die durchtanzten Nächte, die kopflosen Vorhaben, der Geist der Freiheit, der die Jugendzeit durchweht – ich kenne das! Ich glaube aber, es lohnt sich, diesen Glanz ins Leben zurückzuholen, wenn er sich verflüchtigt hat.

Damit meinen Sie nun nicht Statussymbole wie Autos oder Uhren.
Genau. Worum es mir geht, sind Momente existenziellen Staunens. Die Psychologie konnte zeigen, dass Momente, in denen wir uns klein fühlen angesichts von etwas Grossem – etwa in der erhabenen Natur, während eines ergreifenden Konzerts oder in der Fanmeile im Stadion –, zentral sind für das tiefe Glück, das Menschen empfinden können. Das hat auch damit zu tun, dass wir dann das Gefühl haben, Teil eines grösseren Ganzen, im besten Sinn aufgehoben zu sein. In den mittleren Jahren sind wir oft so eingespannt, dass wir uns dafür wenig Zeit nehmen – oder die Offenheit zu solchem Staunen verlernt haben.

Wie gelingt das von neuem?
Wer während des Konzerts seine Mails checkt oder bei der Bergtour nur den perfekten Ort fürs Selfie sucht, wird sich nicht ganz einlassen können auf den Zauber des Moments. Den wir übrigens auch nicht auf Knopfdruck herstellen können. Wir müssen vielmehr innerlich auf Empfang sein, um es mit einem Bild auszudrücken: uns innerlich horchend auf die Welt beziehen.

Wann verspüren Sie den Glanz im Leben?
Ich gehe oft in den Wald und kenne genau diese Schwierigkeit: Grüble ich über ein berufliches Problem oder höre noch einen Podcast – oder achte ich auf das herrliche Grün, begegne dem Reiher im Tobel? Solche Momente stellen sich nur ein, wenn ich mich losreisse von To-do-Listen. 

Manche Menschen sehen ihr Leben als eine Serie von Karriere-Etappen vor sich. Irgendwann haben sie alles geschafft. Was dann?
Manche haben tatsächlich viel erreicht und fühlen sich dennoch leer. Der Philosoph Arthur Schopenhauer hat das als Pendelbewegung beschrieben: Entweder wir sind unglücklich, weil wir noch nicht haben, was wir wollen. Oder wir sind gelangweilt, weil wir nicht wissen, was wir als Nächstes anpacken könnten.

Wie kommt man da heraus?
Hilfreich könnte sein, aus diesem zielfokussierten Leben auszubrechen und auch sogenannte atelische Momente zu suchen – gemeint sind Tätigkeiten, bei denen es nicht darum geht, sie abzuhaken oder zu erledigen. Mails gilt es «abzuarbeiten». Mit der Katze spielen, lesen, Musik hören ist hingegen nichts, womit wir irgendwann «fertig sind». Es befriedigt uns im Moment, in dem wir es tun. Hilfreich ist ausserdem, weniger um sich selbst zu kreisen.

Warum?
Gerade in den mittleren Jahren stellen viele fest, dass sie bis jetzt durchs Leben gehetzt sind, und dachten, sie müssten dies und jenes erreichen. In der Mitte des Lebens wird das wichtiger, was der Psychoanalytiker Erik H. Erikson Generativität nennt. Sich zu überlegen: Was kann ich beitragen zu einem grösseren Ganzen? Kann ich etwas weitergeben? Das Gefühl, dass alles keinen Zweck hat, verschwindet oft, wenn man sich gebraucht fühlt.

In einer Sinnkrise soll man also den Blick auf sich selbst ändern.
Die Sinnfrage ist doppeldeutig. Die einen meinen mit der Sinnfrage die grosse Frage des Lebens an sich: Was soll das alles, dieses All, unser Planet? Die kleine Sinnfrage ist die Frage nach dem individuellen Sinn im eigenen Leben: Was will ich anfangen mit der Zeit, die mir bleibt? Ich stimme der Philosophin Susan Wolf zu, die sagt: Sinn erleben wir, wenn wir etwas finden, das wir leidenschaftlich gern tun und diese Sache auch wertvoll ist. Das Schöne an den mittleren Jahren ist ja, dass wir bereits viele Erfahrungen gemacht haben, aber, wenn alles gut geht, noch viel Zeit vor uns liegt – wir also aus dem Vollen schöpfen und gestalten können. Das bedeutet natürlich auch Verantwortung.

Noch eine Bürde.
Vielleicht. Aber Verantwortung bedeutet auch, gefragt zu sein. Im hohen Alter ist das oft schwer: Menschen vermögen zwar vielleicht noch viel, aber fühlen sich oft nicht mehr so gefragt. Eine Aufgabe zu haben im Leben, ist etwas Sinnstiftendes. Und es braucht nicht nur die jungen Stimmen, es braucht auch die besonnenen, lebenserfahrenen. In der Mitte des Lebens lassen wir uns nicht mehr so einfach beeindrucken. Wir wissen: Die anderen kochen auch nur mit Wasser.

Trotzdem: Wer gegen die fünfzig oder sechzig geht, erkennt vielleicht mit Bedauern, dass gewisse Lebensträume unerfüllt bleiben werden.
Zur Bilanzierung gehört der Umgang mit Bedauern. Hier können zwei philosophische Gedanken helfen: Erstens ist Bedauern die Grundmelodie des menschlichen Lebens – und zwar vor allem eines reichen Lebens. Je mehr Interessen wir haben, je mehr uns die Welt da draussen lockt, umso mehr werden wir in der Mitte des Lebens bedauern, dass nicht alles Platz haben wird, denn unsere Zeit ist begrenzt. Wollten wir nichts bedauern, dann konzentrierten wir uns am besten auf ganz wenige Dinge, die wir gut in ein kleines Leben reinpacken können. Das wäre aber ein trauriges Leben. Sehnsüchtig im Leben zu stehen, ist etwas Wunderschönes.

Und zweitens?
Das Leben prägt uns unumkehrbar. Manchmal bereuen wir im Rückblick, Dinge nicht anders entschieden zu haben. Aber damals, als wir entschieden haben, waren wir noch andere. Erfahrungen sind keine Kleidungsstücke, die wir einfach wieder abstreifen können – sie sind wie eine zweite Haut.

Was bedeutet dies fürs Fällen von Entscheiden?
Wenn wir an einer Weggabelung stehen, können wir vorher nicht wissen, welcher Weg der richtige sein wird. Wir sollten uns daher weniger fragen «Was wird sich als richtig erweisen?» als «Bin ich bereit, mich auf die Veränderung einzulassen?». Wir wissen oft nicht, wie uns das Leben prägen wird.

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