Politologin Emilia Roig will die Ehe abschaffen
«In der Ehe liegt die Macht beim Mann»

Die Ehe als patriarchale Institution? So sieht es Politologin und Bestsellerautorin Emilia Roig (39), die in ihrem neuen Buch provokant das Ende der Ehe ausruft. Ein Gespräch über Abhängigkeit, Intuition und lesbische Liebe.
Publiziert: 31.03.2023 um 00:52 Uhr
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Karen SchärerTeamlead Gesellschaft

In der Schweiz wird immer weniger geheiratet. Das dürfte Emilia Roig freuen: Die Politologin fordert die Abschaffung der Ehe.

Blick: Sie bezeichnen die Ehe als die wichtigste Säule des Patriarchats. Das müssen Sie erklären.
Emilia Roig: Die Macht der Männer ist auf allen gesellschaftlichen Ebenen zu finden – aber ab dem Moment, wo sie intim sind mit einer Frau soll sie verschwinden? Das kann nicht sein. Die intime Ebene in einer heterosexuellen Beziehung ist ein wichtiger Angelpunkt für das Patriarchat.

Diese Aussage dürfte für Empörung sorgen. Viele Paare leben eine egalitäre Partnerschaft.
Ich kritisiere doch nicht das einzelne Paar. Ich will sichtbar machen, dass Ehe eine machtvolle Institution ist, die als unabwendbare, unerlässliche und überlegene Norm etabliert wurde. Die Ehe wurde durch Männer in einer Zeit erfunden, in der Frauen wie Tauschobjekte behandelt wurden.

Politologin Emilia Roig zeigt auf, warum die Ehe für die Frauen nach wie vor keine egalitäre Institution ist.
Foto: Susanne Ehrler
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Seither ist rechtlich viel passiert.
Und trotzdem ist die Ehe auch heute für die Frauen noch keine egalitäre Institution.

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«Frauen werden durch die Ehe abhängig gemacht von ihren Männern.»
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Warum?
Frauen werden durch die Ehe nach wie vor abhängig gemacht von ihren Männern – und zwar durch das Ehegattensplitting in Deutschland respektive die gemeinsame Besteuerung in der Schweiz.

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Was hat die Besteuerung mit dem Patriarchat zu tun?
Die Steuerpraxis bevorzugt Paare mit einem patriarchalen Modell: Die eine Person verdient mehr, die andere verdient weniger und übernimmt die überwiegende Mehrheit der Care-Arbeit für Kinder, Verwandte, Haushalt.

Hierzulande sind bei 60 Prozent der Paare mit Kind die Frauen nicht oder in Teilzeit erwerbstätig.
Dann geschieht folgendes: Der Mann sammelt im Lauf des Lebens ein Vermögen an, weil sich die Frau um die Kinder kümmert und Teilzeit arbeitet. Die finanzielle Abhängigkeit der Frau nimmt zu. Innerhalb der Beziehung gewinnt der Mann an finanzieller Macht. De facto liegt die Macht gesetzlich beim Mann.

Die Abstimmung über die Individualbesteuerung kommt in naher Zukunft. Damit fiele der steuerliche Anreiz für ein traditionelles Familienmodell weg.
Dieser Schritt ist überfällig, löst aber nicht alle Probleme.

Was für Probleme gibt es noch?
In Frankreich haben die Frauen bereits eine höhere Arbeitsmarktbeteiligung; sie sind also finanziell weniger abhängig. Doch sie sind überarbeitet und innerhalb der Beziehung ausgebeutet, weil die Care-Arbeit nicht gleichmässig aufgeteilt wird.

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«Mein Mann war weder Patriarch noch Sexist.»
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Wie Sie in Ihrem Buch schreiben, teilen Sie die Erfahrung der ungleich verteilten Care-Arbeit.
Und das hatte nichts damit zu tun, dass mein Ehemann ein Patriarch oder Sexist gewesen wäre. Das war er nicht. Dass es bei vielen Paaren so herauskommt, hat mit Sozialisation zu tun.

Sie spürten vor der Hochzeit, dass Sie diese Ehe nicht wollen. Warum vertrauten Sie Ihrer Intuition nicht?
Der gesellschaftliche Druck um mich herum war so kraftvoll, dass ich meiner Intuition nicht vertrauen konnte. Wir waren verliebt, waren von aussen betrachtet «das perfekte Paar» – alles war stimmig. Ich dachte, es stimmt etwas nicht mit mir, dass ich mich nicht wohlfühle in diesem Konstrukt.

Zur Person

Die Französin Emilia Roig (39) ist Politikwissenschaftlerin, Bestsellerautorin und Aktivistin mit den Themenschwerpunkten Intersektionalität und Antidiskriminierung. Ihr neues Buch «Das Ende der Ehe. Für eine Revolution der Liebe» (Ullstein Verlag) ist am 30. März erschienen. Sie lebt mit ihrem Sohn in Berlin.

Susanne Ehrler

Die Französin Emilia Roig (39) ist Politikwissenschaftlerin, Bestsellerautorin und Aktivistin mit den Themenschwerpunkten Intersektionalität und Antidiskriminierung. Ihr neues Buch «Das Ende der Ehe. Für eine Revolution der Liebe» (Ullstein Verlag) ist am 30. März erschienen. Sie lebt mit ihrem Sohn in Berlin.

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Ist es nicht nur eine Frage der Zeit, bis die Ehe nicht mehr als «unentbehrliche Etappe im Leben einer Frau» gilt, wie Sie schreiben? Immerhin kommt in der Schweiz mittlerweile jedes vierte Kind ausserehelich zur Welt. Es wächst eine Generation heran, die andere Lebensmodelle verinnerlicht.
Auch ich bin ausserehelich geboren, meine Eltern trennten sich zweimal, mein Vater hatte schon ein anderes Kind. Trotzdem war der Druck da – und nicht nur durch die Verwandtschaft. Wir sind umgeben von Botschaften in Bildern, Werbung, Filmen, die die Ehe überhöhen.

749 gleichgeschlechtliche Paare haben im ersten Halbjahr der Ehe für alle geheiratet. Missbilligen Sie das?
Es ist richtig, dass gleichgeschlechtliche Paare heiraten dürfen, da Hetero-Paare es ja auch dürfen. Die Frage ist aber: Ist es gut für queere Paare zu heiraten? Denn mit der Heirat übertragen sich Abhängigkeitsmuster, die bis jetzt nur in Hetero-Paaren zu sehen waren, auf Homo-Paare. Ein lesbisches oder schwules Paar muss jetzt entscheiden, wer Geld verdient und wer zu Hause bleibt, weil ein solches Modell steuerlich mehr Sinn macht.

Die Ehe in der Schweiz

Die Heirat verliert an Popularität: 1970 gab es 46'700 Hochzeiten in der Schweiz. Das entsprach einer Zahl von 7,6 Heiraten je 1000 Einwohner. 2019 waren es noch 4,5 Heiraten je 1000 Einwohner oder 39'000 Hochzeiten. Die Pandemie drückte die Zahl noch tiefer.

Am 1. Juli 2022 ist die Ehe für alle in Kraft getreten. 394 Männerpaare und 355 Frauenpaare haben bis am 31. Dezember 2022 geheiratet, insgesamt sind das 749 gleichgeschlechtliche Ehen.

Die Steuergerechtigkeits-Initiative zur Überwindung der «Heiratsstrafe» wurde 2022 eingereicht und ist in Vernehmlassung. Das Parlament hat den Bundesrat zudem schon länger beauftragt, eine Vorlage zur Individualbesteuerung zu erarbeiten.

KEYSTONE/CHRISTIAN BEUTLER

Die Heirat verliert an Popularität: 1970 gab es 46'700 Hochzeiten in der Schweiz. Das entsprach einer Zahl von 7,6 Heiraten je 1000 Einwohner. 2019 waren es noch 4,5 Heiraten je 1000 Einwohner oder 39'000 Hochzeiten. Die Pandemie drückte die Zahl noch tiefer.

Am 1. Juli 2022 ist die Ehe für alle in Kraft getreten. 394 Männerpaare und 355 Frauenpaare haben bis am 31. Dezember 2022 geheiratet, insgesamt sind das 749 gleichgeschlechtliche Ehen.

Die Steuergerechtigkeits-Initiative zur Überwindung der «Heiratsstrafe» wurde 2022 eingereicht und ist in Vernehmlassung. Das Parlament hat den Bundesrat zudem schon länger beauftragt, eine Vorlage zur Individualbesteuerung zu erarbeiten.

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Sie wünschen sich eine «Revolution der Liebe». Wie sieht diese aus?
Zur Liebe gehört auch die Care-Arbeit. Diese sollte als die edelste und wichtigste Form der Arbeit betrachtet werden. Der Person, die in der Familie Care-Arbeit leistet, sollte von Gesetzes wegen Geld zustehen von der Person, die Lohnarbeit verrichtet.

Kurz: Sie wollen die Ehe weiterentwickeln, egalitärer machen und die Thematik der Care-Arbeit hineinbringen.
Absolut. Und anders nennen, zum Beispiel Fürsorgegemeinschaft. Die Ehe soll nicht mehr übermächtig sein, sondern parallel zu anderen Formen der Beziehung existieren.

Haben Ihnen Ihre Liebesbeziehungen zu Frauen die Augen geöffnet?
Sie sind wie kleine Oasen inmitten des Patriarchats. Wie alle Paare haben auch Lesben Probleme, aber das Problem der männlichen Dominanz existiert nicht. Ich erkannte in diesen Beziehungen, dass ich sozialisiert war im endlosen Geben, ohne eine Erwiderung dieser Aufmerksamkeit zu erwarten. Das hat mich geöffnet für wahre Liebe auf Augenhöhe.

Ein Vorbild für Hetero-Männer?
Auf jeden Fall! Wie die amerikanische Feministin Jane Ward sagte: Männer sollten Frauen lieben, wie Lesben sich lieben.

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