Wissenslücken über Balkankriege und Srebrenica-Völkermord an Schweizer Schulen
Wo bleibt der Balkan im Schulunterricht?

An Schweizer Schulen sind die Balkankriege der 90er-Jahre selten ein Thema. Dabei wäre dieses Wissen gerade heute wichtig, sagen Expertinnen.
Publiziert: 13.07.2024 um 12:04 Uhr
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Aktualisiert: 13.07.2024 um 14:31 Uhr
Aleksandra Hiltmann und Nataša Mitrović

Der Balkan in den 90er-Jahren: Titos Vielvölkerstaat zerfällt, es herrscht Krieg. Hunderttausende Menschen müssen flüchten. Viele suchten Schutz in der Schweiz, viele sind bis heute geblieben.

Menschen mit familiärem Bezug zum Balkan sind heute ein fester Teil der Schweizer Bevölkerung. Doch an Schweizer Schulen sind die Gründe dafür, weshalb viele dieser Menschen in die Schweiz kommen mussten, selten ein Thema. 

«Es ist durchaus möglich, dass Jugendliche die obligatorische Schule verlassen, ohne dass sie etwas über die Balkankriege der 90er-Jahre gehört haben», sagt Julia Thyroff, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum Politische Bildung und Geschichtsdidaktik an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz.

335 Opfer des Völkermords von Srebrenica in einer verlassenen Halle. Der Genozid ist zum Symbol für den verheerenden dreieinhalbjährigen Krieg in Bosnien geworden.
Foto: Keystone
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«Es ist erschreckend, dass der grösste Genozid in Europa seit dem Holocaust hierzulande so wenig bekannt ist», sagt Dilyara Müller-Suleymanova über den Völkermord von Srebrenica, Bosnien-Herzegowina, von 1995. Sie forscht am Institut für Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe der ZHAW zu jungen Menschen in der Schweiz mit Bezug zum ehemaligen Jugoslawien.

Wie genau der Zerfall Jugoslawiens an Schweizer Schulen vermittelt wird, dazu gibt es bis heute keine systematischen Untersuchungen. Aus Gesprächen mit Lehrpersonen vermutet Thyroff, dass das Thema lediglich sporadisch behandelt wird. Müller-Suleymanova trifft in ihrer Arbeit auf Jugendliche, die in der Schule so gut wie nichts dazugelernt haben. An einer Fachtagung am Zentrum für Demokratie in Aarau vor einigen Jahren war ebenfalls von Lehrpersonen und Expertinnen zu hören, wie wenig das Thema behandelt werde und dass für die Vermittlung des Stoffs kaum Routinen vorhanden seien.

Die Wissenslücken können gravierende Folgen haben, sagen die beiden. Dass das Thema nur spärlich vermittelt wird, dafür gibt es Gründe.

Jugoslawien zerfällt auf einer Doppelseite

Die Lehrmittelsituation zu diesem Thema sei nicht optimal, so Thyroff. Die drei auf der Sekundarstufe 1, umgangssprachlich Oberstufe, eingesetzten Geschichtsbücher behandeln die Balkankriege der 90er-Jahre jeweils auf einer Doppelseite. Thyroff begrüsst es, dass das Thema in den Lehrmitteln vorkommt. Gleichzeitig sei es schwierig, der Komplexität des Themas auf einer Doppelseite gerecht zu werden.

Die Fachtagung in Aarau wie auch Gespräche, die Thyroff mit Lehrpersonen führt, zeigen: Der Zerfall Jugoslawiens ist komplex und fordert Lehrerinnen und Lehrer heraus, fachlich wie sozial. Zu den Kriegen kursieren verschiedene, teils stark gegenläufige Narrative. Lehrpersonen müssen damit rechnen, dass dies auch bei ihren Schülerinnen und Schülern, deren Familien teils direkt von der Gewalt betroffen waren, der Fall sein kann. «Manche Lehrpersonen machen sich Sorgen, dass Lernende emotional reagieren oder die Situation im Unterricht sozial aus dem Ruder laufen könnte», so Thyroff.

Der Zerfall Jugoslawiens ist bis heute ein emotional stark aufgeladenes Thema. Das weiss Dilyara Müller-Suleymanova aus ihrer Arbeit. In ihren Studien beschäftigt sie sich mit der zweiten und dritten Generation von balkanstämmigen Menschen in der Schweiz. Ihre Befragungen zeigen: Die betroffenen Familien setzen sich sehr unterschiedlich mit den Kriegen auseinander. Viele aber reden wenig. «Traumatische Erlebnisse werden lange unterdrückt, die Eltern wollen ihre Kinder damit nicht belasten.» 

Die Kinder würden dennoch mit bestimmten Erzählungen aufwachsen, oft mit stark von der eigenen ethnischen Gruppe geprägten, teils auch mit nationalistischen, und konspirativen, in denen Kriegsverbrechen geleugnet werden.

Die Jugendlichen haben viele Fragen

Aus Interviews mit jungen Erwachsenen weiss Müller-Suleymanova: Je älter die Kinder werden, desto mehr Fragen haben sie. Da die Familie wenig spricht, suchen sich Jugendliche andere Orte, an denen sie Antworten finden können.

Die Schule wäre eine potenzielle und wichtige Informationsquelle, so Müller-Suleymanova. Doch genau dort werde das Thema oft übersprungen. 

Auch wenn für viele Jugendliche der ethnische Hintergrund keine negative Rolle spielt – bei einigen können sich die stark verkürzten Erzählungen aus der Familie negativ auf das soziale Leben auswirken. Etwa auf den Umgang von Schülerinnen und Schülern untereinander. Oder später auf Liebesbeziehungen zwischen Jugendlichen mit unterschiedlichen ethnischen Hintergründen und auf politische Diskussionen im Freundeskreis.

Gefährliche Narrative werden auf neue Konflikte übertragen

Darüber hinaus beeinflussen diese Narrative aber auch, wie die Jugendlichen andere Konflikte und Kriege wahrnehmen, und erklären, aktuell unter anderem den Krieg in der Ukraine und im Gazastreifen.

«In einigen Erzählungen über die Balkankriege gelten die Nato, die USA und ‹der Westen› pauschal als ‹böse Mächte›», so Müller-Suleymanova. Diese Perspektive werde dann auf neue Konflikte angewendet. Gefährliche und unreflektierte Narrative würden so immer wieder aktualisiert. Mitunter bis hin zu Verschwörungstheorien, die als Grund für die Kriege herangezogen werden.

Welche unterschiedlichen Narrative können gleichberechtigt nebeneinander akzeptiert werden, welche aber verletzen zentrale Prinzipien wie Menschenrechte oder Demokratie? Darum müsste es im Unterricht gehen, sagt Thyroff. Sie sieht noch einen anderen Grund, weshalb es für Schülerinnen und Schüler wichtig ist, über die Ereignisse auf dem Balkan aufgeklärt zu werden, und zwar unabhängig davon, ob sie Migrationsgeschichten haben oder nicht.

«Es ist wichtig für das Verständnis der Schweizer Gesamtgesellschaft.» Etwa, wenn über Zugehörigkeit diskutiert werde oder es zu Ereignissen wie der sogenannten Doppeladler-Affäre komme. Um solche Ereignisse einordnen und verstehen zu können, brauche es ein bestimmtes Mass an Wissen und Kompetenzen. Der Geschichtsunterricht sei ein Ort, an dem diese Fähigkeiten vermittelt werden können.

Potenzial für das Positive

Das mangelnde Wissen über und Bewusstsein gegenüber den Kriegen in den 90er-Jahren auf dem Balkan zeigte sich zuletzt beim grossflächigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Damals sagte Bundesrätin Karin Keller-Sutter an einer Pressekonferenz: «Jetzt haben wir einen Krieg mitten in Europa. Es ist der erste Krieg seit dem Zweiten Weltkrieg, der alle berührt, der alle sehr besorgt.» 

Eine solche Aussage suggeriere, dass der Balkan und dessen Geschichte nicht als Teil Europas angesehen werde, erklärt Müller-Suleymanova. 

Die Schweiz und der Balkan sind seit Jahrzehnten stark miteinander verbunden, etwa über die Arbeitsmigration. Dennoch finde sich dazu, ähnlich wie zu den Kriegen, eher wenig im Unterricht wieder. Und das, obwohl Zugewanderte aus dieser Region die Schweiz stark prägen und bis heute zu ihrer wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung beitragen.

Würde man diesen Teil der Schweizer Geschichte im Unterricht anerkennen, so Müller-Suleymanova, könne das den Jugendlichen helfen, sich stärker zugehörig zu fühlen, und nicht nur Negatives mit der eigenen Identität, wie sie in der Öffentlichkeit oft dargestellt werde, zu verbinden. Lernenden ohne familiäre Bezüge zum Balkan wiederum würde das helfen, negative Stereotype zu hinterfragen und abzubauen.

Geschichte persönlich vermitteln

Aktuell arbeiten beide Wissenschaftlerinnen daran, die Behandlung der Balkankriege im Schweizer Geschichtsunterricht voranzubringen. Thyroff möchte herausfinden, wie genau der Zerfall Jugoslawiens an Schweizer Schulen vermittelt wird und wie man Lehrpersonen unterstützen kann. Müller-Suleymanova ist dabei, multimediale Unterrichtseinheiten zu entwickeln und sie in der Schule zu testen.

Beide sehen Potenzial in einer sehr persönlich gestalteten Form, Geschichte zu vermitteln, etwa der sogenannten Oral-History-Methode, bei der Zeitzeuginnen vor Schulklassen erzählen. Dieser Ansatz hat sich vor allem in der Holocaust-Bildung bewährt und wird in der Schweiz vereinzelt auch eingesetzt, um über den Zerfall Jugoslawiens zu sprechen. Durch Zeitzeuginnen und -zeugen erhalte Geschichte ein individuelles Gesicht, das könne Empathie schaffen, sagen die Forscherinnen.

Sie geben aber zu bedenken: Auch diese Erzählungen müssten eingeordnet, allfällige emotionale Reaktionen aus der Klasse professionell abgefangen werden. Das brauche Zeit. Und die fehle oft.

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