Micha Lewinskys Debütroman
Ein Mann auf der Flucht

In «Sobald wir angekommen sind» flüchtet eine Zürcher Familie vor dem eingebildeten dritten Weltkrieg. Es ist der erste Roman des erfolgreichen jüdisch-schweizerischen Drehbuchautors Micha Lewinsky.
Publiziert: 28.07.2024 um 15:45 Uhr
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Silvia TschuiGesellschafts-Redaktorin

Micha Lewinsky (52) hat das Schreiben sozusagen geerbt – schon sein Vater Charles Lewinsky (78) hat unzählige Romane, Theaterstücke und Drehbücher geschrieben, der Sohn steht ihm mit erfolgreichen Drehbüchern und Regiearbeiten in nichts nach: Unter anderem hat er mit den Filmen «Der Freund» und «Moskau einfach!», beide mit Philippe Graber in der Hauptrolle, mehrere Preise abgeräumt.

Und um ein Erbe geht es denn auch in seinem Debütroman «Sobald wir angekommen sind», der letzten Mittwoch erschienen ist. Auch wenn sich die Geschichte vordergründig als Beziehungstragikomödie tarnt. Eine Beziehung, die stark vom Fluchtinstinkt des Protagonisten Ben Oppenheim geprägt ist – und da kommt nun ein Erbe ins Spiel, ein historisches Erbe. Denn Lewinskys Hauptfigur Ben Oppenheim ist, wie Lewinsky selbst, schweizerischer Jude.

Der Fluchtinstinkt sitzt bei Lewinskys Protagonist tief

Man stelle sich, wie der Protagonist Oppenheim das immer wieder tut, vor, was 2000 Jahre Hass, Verfolgung und systematische, wiederholte, massenhafte Ermordung der Juden für Auswirkungen haben könnten – und endet ziemlich genau bei Lewinskys Protagonisten Ben Oppenheim. Oppenheim ist, genauso wie Lewinsky, Drehbuchautor, allerdings ist die Buchversion deutlich weniger erfolgreich als Lewinsky selbst. Sein Zürcher Alter Ego ist verheiratet, aber bereits getrennt, hat zwei Kinder, eine neue, jüngere, erfolgreiche Freundin, finanzielle Sorgen und ein überaus fein ausgeprägtes Sensorium dafür, jegliche Situation und jegliche soziale Interaktion sofort und umfassend auf mögliche Bedrohungen zu analysieren.

Autor Micha Lewinsky hat das Schreiben im Blut.
1/6

Und so ist es naheliegend, dass Ben Oppenheim und seine Ex-Frau beim ersten Anzeichen einer Bedrohung in Europa – eine Bombenexplosion, bei der Russland beteiligt ist – ihre zwei Kinder packen und Hals über Kopf nach Brasilien flüchten. Brasilien, weil dort auch schon der von Oppenheim verehrte Schriftsteller Stefan Zweig vor den Nazis geflüchtet ist, bevor er sich dort das Leben nahm.

Auch wenn fast ihr gesamtes Umfeld weiter seelenruhig dem vertrauten Alltag nachgeht und ihre Hals-über-Kopf-Aktion eher belächelt, sind sich Oppenheim und seine Ex-Frau sicher, trotz schwindender finanzieller Möglichkeiten das Richtige zu tun. Es ist auch nachvollziehbar, dass sich Oppenheim erst genau dann zum ersten Mal so richtig zu Hause fühlt, als er flüchtet, dass er die Fluchthandlung eigentlich als eine Art Heimkommen, als Heimat empfindet.

Schmaler Grat zwischen Selbstironie und Larmoyanz

Und vor diesem Hintergrund ist es auch logisch, dass das Buch streckenweise trotz sprachlicher Flüssigkeit und filmreifen Dialogen anstrengend zu lesen und der Protagonist schwer auszuhalten ist. Denn die höchst- nein, überempfindliche Sensorik für jedwelche mögliche Bedrohungen richtet sich nicht nur gegen aussen, sondern insbesondere auch nach innen. Plot gibt es wenig, der Fokus liegt auf den Beziehungen, die Oppenheim zu seiner Ex-Frau, seiner Freundin, seinen Kindern und seinen entfremdeten Eltern pflegt – oder eben nicht: Die Gedanken kreisen darum, ob er nun das sagen oder tun soll oder darf oder muss oder eben nicht darf.

Alles, aber auch alles dreht sich so stets um Oppenheims eigene Befindlichkeit, jedes eigene Verhalten wird zeitgleich zur Ausführung desselben angstzerfressen und selbstzerfleischend überanalysiert, um sich dann doch vor sich selbst für konsequent unreifes, selbstbezogenes Handeln zu rechtfertigen. Die so unweigerlich entstehenden Konflikte mit seinem Umfeld dreht Oppenheim in Gedanken stets zu seinen Gunsten, während man als Publikum manchmal amüsiert, oft aber auch verständnislos den Kopf schüttelt. Zu oft kippen die inneren Rechtfertigungen des Protagonisten auf dem schmalen Grat der humorvollen Selbstironie in selbstrechtfertigende Larmoyanz und eigentliche Selbstdemontage. Und so klappt es auch in Brasilien mit der von Oppenheim angestrebten Versöhnung mit seiner Ex-Frau letztendlich nicht. Aber immerhin wird eine Rückkehr zu klareren Verhältnissen möglich.

Interessant ist das Buch immer dort, wo Oppenheim selbstreflexiv direkt oder auch indirekt herleitet, weshalb er wohl so handelt, wie er es tut. Man kann Lewinskys Debütroman deshalb anstatt als Kriegsgeschichte oder Beziehungsgeschichte eher als Einblick in eine schweizerisch-jüdische, durch 2000 Jahre Verfolgung geformte Psyche lesen. Und dann ärgert man sich plötzlich nicht mehr so sehr über die magere Handlung – Familie reist nach Brasilien und wieder zurück – und auch nicht mehr über den Protagonisten Oppenheim.

Micha Lewinsky: «Sobald wir angekommen sind», Diogenes, 288 Seiten, ca. 34 Franken 

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