Unsere Autorin Silvia Tschui nahm eine ukrainische Flüchtlingsfamilie auf
Ich glaube wieder an das Gute in den Menschen

Unsere Autorin hat eine ukrainische Flüchtlingsfamilie bei sich aufgenommen. Zwischendrin war die Lage verzweifelt, jetzt zeichnet sich ein Happy End ab – auch dank SonntagsBlick-Magazin-Lesern.
Publiziert: 05.06.2022 um 15:36 Uhr
Silvia Tschui

Ich schliesse die Tür auf, und plötzlich ist das Haus so gross. Was in den etwas mehr als zwei Monaten mit Oksana, Mascha, Nastja, meinem Sohn, meinem Partner, zunächst den zwei Hunden Samba und Eyvan, später nur noch Samba und dem Büsi Finöggeli a.k.a. Nöggi so beengt war, dass man sich gefühlt ständig auf die Füsse stand, dehnt sich jetzt in alle Weiten. Es fehlen: Maschas Geruch nach Haarspray am Morgen. Nastjas tiefes, herzhaftes Lachen, bei dem es sie jeweils fast schüttelt und bei dem man unweigerlich mitlacht. Oksanas Gesangsfetzen, wenn sie kocht. Ihr Galgenhumor. Kostprobe: Als uns unser Nachbar damals mitgeteilt hat, wir könnten die Eier von seinen Hühnern gratis haben, hat sie über Google Translate nur trocken gesagt: «Endlich sind wir für dich hier zu etwas nütze!»

Was vor ein paar Wochen noch schier unmöglich schien, ist uns jetzt gelungen: eine Wohnung für die Familie zu finden, die seit dem 22. März bei uns war. Sie erinnern sich: Zunächst haben uns offizielle Stellen gesagt, es würde für eine Unterkunft geschaut, später war davon nicht mehr die Rede, und ich war doch ziemlich überfordert. Für ungefähr eine Woche.

Immerhin hat die Asylorganisation Zürich eine Kostengutsprache für einen Mietzins ausgestellt. Für drei Leute insgesamt 1650 Franken. Das ist nett, und ich verstehe auch angesichts der vielen Menschen, dass dieser Betrag nicht viel höher sein kann. Allerdings muss man sich auch bewusst sein: In der Stadt Zürich ist es nahezu unmöglich, für diesen Betrag eine Dreizimmerwohnung zu finden. Und Zweizimmerwohnungen, das zeigen Telefonate mit unzähligen Vermietern, werden an Oksana nicht vergeben: wegen Überbelegung. Ausweichen in eine umliegende Gemeinde geht auch nicht, die Kostengutsprache gilt nur für die Stadt, den Kanton darf die Familie nicht wechseln, und diverse Gemeinden, die wir abtelefonieren, weigern sich schlicht, etwas an den Mietzins zu übernehmen.

Die schweizerisch-ukrainische Gross-WG im Haushalt Tschui ist vorbei.
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Not macht erfinderisch: Stimmt

Die Lage ist düster – bis sich mir eine zündende Idee darbietet. Wir benötigen sie zum Schluss nicht, ich will sie hier Ihnen aber trotzdem nicht vorenthalten. Weil sie zeigt, dass mit etwas Innovation und Goodwill sehr vieles machbar ist – und weil sie meinen Glauben an das Gute in die Menschheit bekräftigt: «Und wenn wir einfach ein Tiny House in den Garten stellen?», durchzuckts mich – und ich fange einmal mehr an, herumzutelefonieren. Mit durchschlagendem Erfolg: Der Hersteller von Igluhut, schönen, einfachen, einstöckigen Tiny Houses, verspricht mir angesichts der Situation einen sehr substanziellen Rabatt auf ein Ausstellungsmodell. Eine Transportfirma sichert mir zu, das Haus zum Selbstkostenpreis zu bringen. Ein alter Freund, der ursprünglich einmal eine Elektrikerlehre gemacht hat, sagt, er würde gratis den Strom ziehen kommen. Ein Bekannter, der sich mit Tiefbau auskennt, verspricht die Erstellung eines Fundaments zum Selbstkostenpreis. Der Kreisarchitekt checkt kurz die Ausnützungsziffer unseres Grundstücks ab und meint, ich solle mich über Grenzabstände etc. schlaumachen, und ich könne unter diesen Umständen ein Baugesuch auch rückwirkend einreichen. Nur das mit dem Abwasser, das sei ein grosses Problem. «Ist kein Problem», sagt hingegen Bastian Etter, den wir mit seiner Firma Vuna in diesem Magazin einmal porträtiert haben: Der Empa- und ETH-Forscher bietet dezentralisierte Abwasserlösungen an. Mittels Trocken- oder Trenntoiletten, einer Ab- und Grauwasseraufbereitung samt Kompostierung vor Ort braucht man so keinen Anschluss an die Kanalisation. Er, wie so viele, erzählt mir Fluchtgeschichten seiner entfernteren Familie. Und: Auch er habe noch Demonstrationsobjekte und -anlagen, die wir haben könnten und die wohl relativ leicht einzubauen wären.

Ich überlege mir sogar, ob man das Ganze nicht mit einer Biogasanlage koppeln könnte, um gleich Heiz- und Kochgas vor Ort herzustellen. Ich bin ganz berauscht von der Idee. Bleibt nur noch die Finanzierung: Auf fünfzig- bis sechzigtausend Franken käme grob übergeschlagen das Ganze, auch das wäre mit etwas Hilfe stemmbar. Zwei Wochen, denke ich, zwei Wochen gebe ich der Wohnungssuche noch, dann soll es mit dem Tiny House losgehen.

Der unfassbare Wert von Hundespaziergängen

Es dauert dann aber nur zwei Tage, bis sich eine bessere Lösung abzeichnet: Über Hundespaziergang-Connections spricht sich unsere Situation herum – und jemand mit gutem Herzen hat tatsächlich in der Nähe eine Wohnung zu vermieten und ist bereit, dies für Oksana, Mascha und Nastja zu den Konditionen, die die Asylorganisation Zürich (AOZ) bietet, zu tun. Sogar Eyvan können sie mitnehmen. Ich bin zum einen natürlich erleichtert. Und auch traurig darüber, dass diese schöne und gleichzeitig anstrengende Zeit zu Ende geht – und dass mein schöner Tiny-House-Plan doch nicht benötigt wird. Aber für die drei ist das Leben in einer Wohnung natürlich viel erstrebenswerter, als sich auf unbestimmte Zeit in einem Tiny House zusammenzupferchen.

Sie sind weg – und kommen bald wieder

Und so steht meine Kindergartenfreundin mit ihrem riesigen Auto vor der Tür, und wir laden überdimensionierte Koffer ein – und ich frage mich einmal mehr, wie das Oksana geschafft hat, mit all dem Gepäck, zwei Kindern und einem Riesenhund zwei Wochen lang quer durch Europa zu reisen. Das Bild, wie sie mit diesen Koffern und ihrem Hund zu Tode erschöpft an unserer Tramhaltestelle standen, drängt sich mir auf. Und ich sehe kurzzeitig etwas verschwommen. «I will miss you», sagt Oksana, als wir am neuen Ort alles ausgeladen haben, umarmt mich, und ich verdrücke erneut eine Träne. Ich werde sie auch vermissen.

Aber sie kommen mir ja nicht abhanden: Für Mascha steht ein Elterngespräch an der Schule an. Sie hat leider die Empfehlung fürs Gymi nicht geschafft und wird im Sommer ausgeschult. Wir suchen eine Anschlusslösung für sie. Oksana hat über die Hilfe von Lesern eine Stelle gefunden, deren Arbeitsstunden sie mit zunehmenden Deutschkenntnissen ständig ausbauen können wird – danke, liebe Leser! Nastja braucht einen Termin beim Zahnarzt, um ihre Spange zu kontrollieren. Und mit den Behörden wird Oksana weiterhin Hilfe brauchen – die letzten Dokumente, die die AOZ wollte, beliefen sich schliesslich auf mehr als zwanzig Seiten.

Ich schliesse meine Haustür auf. In meinem nun plötzlich so stillen Haus sind Zeichnungen von den Ukrainerinnen geblieben, die sie mir zum Geburtstag geschenkt haben. Und ein Randenfleck auf dem Küchenboden, der bereits so stark verblasst ist, dass er kaum mehr zu sehen ist. In meiner Kochbuchschublade steckt das zugehörige Rezept für ukrainischen Borschtsch. Würde ich das Ganze wieder tun? Ja. Auf jeden Fall und bei aller Verzweiflung und Überforderung zwischendrin: Sofort. Auch weil mich das Ganze wirklich an die Menschheit glauben lässt. Die Solidaritätswelle, auch unter den Lesern, war riesig. Vielen Dank noch einmal an Sie alle – für Zustüpfe und für Zuspruch. Nächsten Freitag kommen Oksana, Mascha und Nastja zur Grillade in unseren Garten. Ich freue mich.


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