Exklusiver Vorabdruck aus der ersten umfassenden Biografie über Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt (1921–1990)
Kindheit eines Augapfels und Sorgenkinds

Exklusiver Vorabdruck aus der neuen Biografie über den grossen Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt (1921–1990). Teil 2: Wie Fritz als Pfarrerssohn im Emmental aufwuchs.
Publiziert: 14.09.2020 um 23:14 Uhr
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Aktualisiert: 09.01.2021 um 23:42 Uhr
«Ich war ein kriegerisches Kind», schreibt Friedrich Dürrenmatt in seinem autobiografischen Text «Vom Anfang her». Hier ist Fritz mit Schild und Speer neben seiner drei Jahre jüngeren Schwester Verena im Garten des Pfarrhauses von Stalden zu sehen.
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Es muss ihnen fast ein wenig wie die biblische Geschichte von Abraham und Sara vorgekommen sein: Pfarrer Reinhold Dürrenmatt und seine Frau Hulda waren bereits seit zwölf Jahren verheiratet – er 40 Jahre alt, sie 35 – als ihnen ihr erstes Kind geschenkt wurde, ein Sohn. Friedrich Reinhold Dürrenmatt, in seinen ersten fünfundzwanzig Lebensjahren für alle nur der Fritz Dürrenmatt (der er auch später für seine Freunde blieb), wurde am 5. Januar 1921 in Stalden im Emmental geboren.

Pfarrerskinder

Der deutsche Autor Benjamin von Stuckrad-Barre (45), selber Sohn eines evangelischen Predigers, formuliert es so: «Als Pfarrerskind wird man entweder Terrorist oder Kanzlerin.» Er denkt dabei an RAF-Frau Gudrun Ensslin (1940–1977) und die deutsche Regierungschefin Angela Merkel (66). In der Schweiz haben es Moritz Leuenberger (73) und Christoph Blocher (79) als Bundesräte ins höchste Exekutivamt geschafft. Staatsoberhaupt oder terroristischer Untergrund? «Schriftsteller liegt vermutlich irgendwo dazwischen», sagt von Stuckrad-Barre. Er, Friedrich Nietzsche (1844–1900), Hermann Hesse (1877–1962) und Friedrich Dürrenmatt: Dass viele rebellische Pfarrerskinder mit dem Schreiben Erfolg haben, hat einen geschichtlichen Grund. Das evangelische Pfarrhaus ist ein Hort der Bildung, in dem man viel liest und schreibt und die Kinder so ihr Talent entwickeln können. Daniel Arnet

Der deutsche Autor Benjamin von Stuckrad-Barre (45), selber Sohn eines evangelischen Predigers, formuliert es so: «Als Pfarrerskind wird man entweder Terrorist oder Kanzlerin.» Er denkt dabei an RAF-Frau Gudrun Ensslin (1940–1977) und die deutsche Regierungschefin Angela Merkel (66). In der Schweiz haben es Moritz Leuenberger (73) und Christoph Blocher (79) als Bundesräte ins höchste Exekutivamt geschafft. Staatsoberhaupt oder terroristischer Untergrund? «Schriftsteller liegt vermutlich irgendwo dazwischen», sagt von Stuckrad-Barre. Er, Friedrich Nietzsche (1844–1900), Hermann Hesse (1877–1962) und Friedrich Dürrenmatt: Dass viele rebellische Pfarrerskinder mit dem Schreiben Erfolg haben, hat einen geschichtlichen Grund. Das evangelische Pfarrhaus ist ein Hort der Bildung, in dem man viel liest und schreibt und die Kinder so ihr Talent entwickeln können. Daniel Arnet

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Nicht dass seine Eltern an der Allmacht Gottes gezweifelt hätten, doch werden sie die Kinderlosigkeit bereits als ihr Los akzeptiert haben. 1917 hatten sie eine Pflegetochter aufgenommen, Elisabeth Gori, geboren am 12. Februar 1916. Zum Zeitpunkt der Geburt von Fritz war Lisbeth, wie sie genannt wurde, also fünf Jahre alt. Schon im nächsten Jahr war Hulda Dürrenmatt wieder schwanger, doch die Tochter Marianna lebte nur drei Tage. Am 19. Mai 1924 wurde Verena, genannt Vroni, geboren.

Geordnete finanzielle und familiäre Verhältnisse, eine Welt des unerschütterlichen Glaubens und der Bildung, eine überschaubare Dorfwelt in lieblicher Landschaft, in einer friedlichen, vom Ersten wie später vom Zweiten Weltkrieg verschonten Schweiz – gute Startbedingungen für den Jungen.

Ein zufriedener Egozentriker

Fritz war für seine Eltern Augapfel, Sorgenkind und Ärgernis zugleich. Vor allem für die Mutter stand er im Zentrum der Aufmerksamkeit, und er blieb es ein Leben lang gewohnt, ein Umfeld zu haben, das sich nach ihm richtete: So nahm er später mit grosser Selbstverständlichkeit die Dienste von Freunden in Anspruch und erwartete auch, dass sich Frau und Kinder seinen Bedürfnissen anpassten. Unter diesen Bedingungen war er durchaus hilfsbereit und grosszügig. Ein zufriedener Egozentriker wuchs da heran. Vroni stand stets im Schatten des Bruders, schon lange bevor dieser berühmt war. Die Tochter schlug mehr dem zurückhaltenden und bedächtigen Vater als der resoluten Mutter nach.

Dass er im Zentrum stand, widerspiegelt sich auch in Dürrenmatts autobiografischen und fiktionalen Texten: Nie spielen Geschwister eine wesentliche Rolle, immer nur die Eltern-Kind-Beziehung. Das ist aber seine Perspektive der literarischen Lebenserinnerung und heisst nicht, dass die Geschwister einander wenig bedeuteten. Verena Dürrenmatt, eine ruhige, weltoffene Frau, die ihre letzten Lebensjahre bis zu ihrem Tod am 26. Mai 2018 in einer komfortablen Alterswohnung im neu erbauten Berner Viertel Westside verbrachte, erinnerte sich 2015 in einem Gespräch, dass damals zwar beide Kinder ihre eigenen Freunde hatten, dass sie aber auch oft bloss zu zweit spielten, zumal die Eltern vielbeschäftigt waren – die Mutter als aktive Pfarrfrau mit vielen sozialen Verpflichtungen, der Vater täglich in seiner weitläufigen Pfarrgemeinde unterwegs und zu Hause zurückgezogen in seiner «Studierstube» am Schreibtisch.

Beim Glockengeläut auf die Toilette

So genossen die Kinder im und ums Pfarrhaus gleich neben der Kirche viele Freiheiten. Ein Spielort war, wie sich Dürrenmatt in den Stoffen erinnert, der Friedhof: «Wenn ein Grab ausgehoben wurde, richtete ich mich darin häuslich ein, bis der herannahende Leichenzug, vom Glockengeläute angekündigt, mich vertrieb, einmal freilich etwas spät: Mein Vater sprach schon das Leichengebet, als ich aus dem Grab kletterte.»

Verena liebte und bewunderte ihren Bruder und nahm ihre Rolle als Statistin im Theater des Familienlebens selbstverständlich hin. Sie erinnert sich an seine rebellischen Züge: «Meine Eltern waren ziemlich grosszügig, wir mussten nur an den Festtagen wie Ostern und Weihnacht in die Predigt. Aber dann ist man in einem ‹Zügli› vom Pfarrhaus in die Kirche eingezogen, voran der Vater im Talar, dann – mit Abstand – die Mutter, die mich bei der Hand nahm. Dann sollte Fritz kommen und der Besuch: ein ganzer Umzug. Fritz war schlau, er ging auf die Toilette, wenn die Glocken läuteten und man sich aufstellen musste, und man wartete auf ihn, ging schliesslich ohne ihn.»

Gelebter Dürrenmatt

Ulrich Weber (59) hat Friedrich Dürrenmatt (1921–1990) nie erlebt. Aber er hat ihn seit seinem Studium durchlebt. «Ich kenne sein Leben in seiner Chronologie fast besser als mein eigenes», sagt Weber.

In Bern aufgewachsen, studierte Weber in seiner Heimatstadt und in München (D) Deutsche Literatur und Philosophie. Nach dem Studium begann er 1991 im damals neu gegründeten Schweizerischen Literaturarchiv, wo er heute noch als wissenschaftlicher Mitarbeiter amtet, mit der Erschliessung von Dürrenmatts Nachlass.

Im Rahmen eines Forschungsprojekts schrieb der Germanist seine Doktorarbeit über den Schriftsteller und war im Jahr 2000 an der Gründung des Centre Dürrenmatt in Neuenburg beteiligt. Für die erste umfassende Dürrenmatt-Biografie konnte Weber auf viele erstmals zugängliche Dokumente zugreifen, so auf vernichtet geglaubte Briefe des Dichters an seine erste Frau Lotti.

Ulrich Weber (59) hat Friedrich Dürrenmatt (1921–1990) nie erlebt. Aber er hat ihn seit seinem Studium durchlebt. «Ich kenne sein Leben in seiner Chronologie fast besser als mein eigenes», sagt Weber.

In Bern aufgewachsen, studierte Weber in seiner Heimatstadt und in München (D) Deutsche Literatur und Philosophie. Nach dem Studium begann er 1991 im damals neu gegründeten Schweizerischen Literaturarchiv, wo er heute noch als wissenschaftlicher Mitarbeiter amtet, mit der Erschliessung von Dürrenmatts Nachlass.

Im Rahmen eines Forschungsprojekts schrieb der Germanist seine Doktorarbeit über den Schriftsteller und war im Jahr 2000 an der Gründung des Centre Dürrenmatt in Neuenburg beteiligt. Für die erste umfassende Dürrenmatt-Biografie konnte Weber auf viele erstmals zugängliche Dokumente zugreifen, so auf vernichtet geglaubte Briefe des Dichters an seine erste Frau Lotti.

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Drama um die Pflegeschwester

Elisabeth Gori, die Pflegeschwester von Fritz und Vroni, war das uneheliche Kind der italienischen Gastarbeiterin Marie Antonietta Gori aus Longiano, die auf einem Bauernhof in Egg bei Zürich vom Sohn des Bauern geschwängert und von den Behörden gezwungen worden war, ihr Kind wegzugeben. Als sie vom gleichen Bauernsohn ein zweites Kind bekam, wurde ihr auch dieses genommen und sie des Landes verwiesen. Ein düsteres Kapitel schweizerischer Sozialgeschichte spielt da in die Familiengeschichte hinein. Lisbeth war ein sogenanntes Verdingkind, wie sie damals jährlich zu Zehntausenden den – oft alleinstehenden – Müttern weggenommen und durch die Behörden an Pflegefamilien vermittelt wurden.

Lisbeth war kein einfaches Kind. Die Pfarrfrau hatte ihre liebe Mühe mit dem lebhaften, impulsiven Mädchen. Die Geburt von Fritz und Vroni bedeutete einen Bruch in dessen Biografie. Lisbeth erlebte, dass es nicht den gleichen Stellenwert hatte wie die «richtigen» Dürrenmatt-Kinder. Schon die unerwartete Geburt von Fritz veränderte alles, und als das zweite Kind Marianna kurz nach der Geburt starb und Hulda bald wieder ein Kind erwartete, wurde Elisabeth im Alter von etwa neun Jahren von den überforderten Pflegeeltern in ein Kinderheim gegeben. Zwar holten sie das Mädchen, von schlechtem Gewissen geplagt, nach etwas mehr als einem Jahr wieder zurück, doch die Erfahrung blieb.

Ulrich Weber, «Friedrich Dürrenmatt – eine Biografie», mit Bildteil, Erscheinungstermin: 23. September 2020

©2020 by Diogenes-Verlag AG Zürich

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