Louis-Philippe I. hatte eine Geliebte in der Schweiz
Der König, der eine Köchin liebte

Louis-Philippe, der spätere Bürgerkönig Frankreichs, flüchtet in die Schweiz. Eine Odyssee führt ihn durch die halbe Deutschschweiz. In Reichenau GR verliebt er sich in eine Köchin.
Publiziert: 05.08.2019 um 22:56 Uhr
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Aktualisiert: 06.08.2019 um 14:08 Uhr
Louis-Philippe I. als König der Franzosen im Jahr 1830. 1793 floh der 20-Jährige vor den Wirren der Revolution in die Schweiz.
Foto: Getty Images
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Michael van Orsouw

Herzog Louis-Philippe von Orléans (1773–1850) ist adelig, aber dennoch den Ideen der Französischen Revolution zugetan. Weil er in den Wirren nach der Revolution um seinen Kopf fürchten muss, flieht er vor dem Gang zur Guillotine in die Schweiz. Am 26. April 1793 kommt der junge Herzog in Schaffhausen an. Dort trifft er seine Schwester und deren Erzieherin.

Das prominente Trio ist in der Schweiz zwar ausser Lebensgefahr, aber es bleibt auf der Flucht. Louis-Philippe und seine Begleiterinnen reisen weiter nach Zürich. Sie wohnen im Gasthaus zum Schwert, an einer der besten Adressen im damaligen Zürich (heute Weinplatz 10). Zu dieser Zeit tummeln sich viele Franzosen in der Stadt, die nach der Revolution wie unser Herzog von Orléans ausser Landes fliehen mussten. Solche Emigranten erkennen den prominenten Louis-Philippe auf der Strasse. Er fühlt sich in Zürich inmitten der vielen Landsleute nicht mehr sicher.

Der nächste Ort seiner Flucht ist das Städtchen Zug. Der Adelige und seine Begleiterinnen beziehen das herrschaftliche Haus Tschuopis am Abhang des Zugerbergs (später Blumenhof, heute Zugerbergstrasse 28b). Louis-Philippe und die Frauen verbringen ihre Tage im erfreulich ruhigen Zuger Exil mit Spazieren und Kirchgängen, sie sprechen manchmal mit Bauern, denen sie gelegentlich ein Trinkgeld zustecken. Die Zugerinnen und Zuger halten die französischen Flüchtlinge jedoch irrtümlicherweise für eine Familie aus Irland. Nur der tatendurstige Louis-Philippe lässt es sich nicht nehmen, sich immer mal wieder abends im Hotel Ochsen am Kolinplatz einen «Schoppen» zu genehmigen. Doch auch in Zug verkehren andere Exilfranzosen. So dauert es nicht lange, bis Herzog Louis-Philippe erneut von einem Landsmann erkannt wird.

Ein feiger Anschlag

Am 26. Juni, abends um 22.15 Uhr, kommt ein faustgrosser Stein durch die Fensterscheibe des Hauses Tschuopis geflogen! Er trifft zum Glück nur einen Hut. Kurz darauf werden nochmals mehrere Steine geworfen, einer mit einer solchen Wucht, dass er sogar eine Ofenplatte zerschmettert. Damit nicht genug: Am nächsten Morgen entdeckt man, dass zwei Pferdegeschirre, die Louis-Philippe gehören, in kleine Stücke zerschnitten wurden. Sind es Streiche von Zuger Lausbuben? Die Hinterlist, die Grösse und Anzahl der Steine deuten eher auf verfeindete Franzosen hin, die ihren Revolutionskampf hier in der Schweiz im Kleinen fortsetzen.

So kann es nicht weitergehen. Ein wohlgesinnter Franzose berichtet von einem General, der ebenfalls in die Emigration fliehen musste und nun im nahen Bremgarten AG lebe. Dieser bietet konkrete Lösungen an: Dem Prinzen gewährt er in seiner Wohnung an der Antonigasse 14 in Bremgarten Unterschlupf; seine Begleiterinnen kommen im Bremgartner Klarissenkloster unter.

Doch auch im beschaulichen Bremgarten wiederholt sich die Geschichte: Herzog Louis-Philippe wird erkannt und ist sich in der Folge seines Lebens nicht mehr sicher. Deshalb erteilt der General dem Herzog den Rat, ins Schloss Reichenau im Bündnerland zu fliehen und sich dort zu verstecken.

Aus dem König wird Lehrer «Chabos»

Am frühen Morgen des 24. Oktober 1793 trifft Louis-Philippe zu Fuss in der Internatsschule im Schloss Reichenau ein. Internatsleiter Aloys Jost, der aufgrund seiner geleisteten Solddienste Französisch spricht, nimmt den angekündigten Gast in Empfang. Mit dem Internatsleiter verabredet Louis-Philippe, dass er als unauffälliger Lehrer aus Südfrankreich auftreten solle, am besten unter einem Fantasienamen.

Beim ersten Abendessen stellt Jost den angereisten Franzosen den 15 Schülern als «Lehrer Chabos» vor. Zu essen gibt es eine Suppe, gekochtes und gebratenes Fleisch sowie Sauerkraut. Letzteres hasst Louis-Philippe. Überhaupt ist der junge Franzose, der sich von seinem adeligen Elternhaus eigene Köche gewohnt ist, heikel. Auch bei den Kleidern drückt die adelige Herkunft des Gasts durch: Der junge Herzog trägt gerne feine Hemden und Halstücher, die er täglich wechselt. Um dennoch nicht aufzufallen, lebt er sehr zurückgezogen.

Kaum hat sich «Monsieur Chabos» mehr oder weniger eingelebt, ereilen ihn zwei Hiobsbotschaften: Zuerst erfährt er, dass seine Mutter verhaftet und – noch schlimmer! – nach Madagaskar deportiert wurde. Bald darauf bekommt er eine noch traurigere Nachricht. Sein Vater wurde ebenfalls gefangen genommen, vor Gericht gestellt und mit der Guillotine hingerichtet! Der junge Louis-Philippe ist todtraurig. Doch er darf sich nichts anmerken lassen, weil sonst sein streng gehütetes Inkognito auffliegen würde.

Eine unstatthafte Liebesbeziehung

Louis-Philippe – oder «Herr Chabos» – kommt mittlerweile bei den Schülern gut an. Aber nicht nur bei ihnen: Er bezirzt auch die Köchin des Seminars, eine Italienerin namens Marianne Banzori, und geht mit ihr eine Liebesbeziehung ein. Bald ist die Köchin, für alle gut ersichtlich, schwanger. Verwalter Jost gerät ausser sich. Der befreundete General in Bremgarten sieht die Angelegenheit vergleichsweise entspannt. Er erwähnt die Methode, die in solchen Fällen am französischen Hof zur Anwendung komme: Man suche für die Schwangere einen standesgemässen Mann, damit sich der Adelige aus dem Staub machen könne.

Weniger entspannt verhält sich Louis-Philippe selbst. Er scheint nicht wirklich zu begreifen, dass er Vater wird. So versucht er sich mit der Ausflucht zu retten, dass er wohl kaum der Vater des Kinds sei. Viel eher komme der Zimmermann dafür infrage, mit dem die Köchin zuvor intim gewesen sei. Verwalter Jost tut das als bösartige Unterstellung ab: Seine Köchin sei gewiss keine Jungfrau gewesen, aber auch keine Hure.

Daraufhin erklärt sich der Herzog doch bereit, für die Niederkunft in Italien sowie für die Erziehung des Kinds aufzukommen. Schliesslich kommt das Kind im Dezember 1794 in Mailand zur Welt, aber wegen Abwesenheit des Vaters und mangels existenzsichernden Berufs der Mutter wird das Baby in ein Waisenhaus gegeben.

Aus dem Flüchtling wird der «König der Franzosen»

Louis-Philippe muss noch vor der Niederkunft der Köchin die Lehranstalt verlassen. Eine Rückkehr nach Frankreich ist noch immer nicht möglich, also zieht er unter dem neuen Decknamen «Adjutant Corby» für neun Monate wieder nach Bremgarten, während sein Kind als Waise in Mailand aufwächst.

Wieder dauert es nicht lange, bis man auch in Bremgarten begreift, wer sich hinter dem Namen Corby versteckt; die Exilfranzosen sind über die ganze Eidgenossenschaft verteilt. Nach den Zwischenfällen in Zürich, Zug, Reichenau und nun auch noch in Bremgarten sieht Louis-Philippe die Zeit gekommen, sich nach gänzlich neuen Horizonten umzusehen. Damit der Adelige unbehelligt reisen kann, stellt ihm der Zuger Beamte Franz Josef Müller einen falschen Pass aus. Weil Landschreiber Müller beim Fälschen kein anderer Name einfällt, wählt er seinen eigenen aus: Louis-Philippe reist deshalb als «Franz Josef Müller» nach Hamburg und weiter nach Finnland.

Später, nach etlichen Jahren und Umwegen, wird Louis-Philippe «König der Franzosen». Auch wenn sich Louis-Philippe politisch offenkundig nicht sehr schweizfreundlich gebärdet, hat er seine Jahre in der Schweiz nicht vergessen. Denn privat zeigt er seine Dankbarkeit für die damalige Aufnahme und Unterstützung: Franz Josef Müller, der Zuger Passfälscher, bekommt 1836 von König Louis-Philippe das Ehrenlegionskreuz und eine mit Diamanten verzierte, goldene Tabakdose gefüllt mit französischen Goldstücken.

Auch das Schloss Reichenau, von wo der junge Louis-Philippe nach Bekanntwerden der Schwangerschaft seiner Geliebten verschwinden musste, wird vom Bürgerkönig mit einer grosszügigen Gabe bedacht: Er schenkt den Bündnern zwei Bilder, die noch heute im Schloss zu sehen sind. Übrigens: Das Louis-Philippe-Zimmer im Schloss besteht noch heute, das an die eher unrühmliche Zeit des späteren Königs von Frankreich erinnert.

Asylland Schweiz

Louis-Philippe von Orléans, der spätere König von Frankreich, ist nicht der Einzige, der sich in der Schweiz vor der Guillotine in Sicherheit brachte. Die Schweiz ist ein Asylland – seit über 200 Jahren. Und zwar nicht nur für Adelige.

Im Verlaufe des 19. Jahrhundert erlangte die Schweiz Bekanntheit als sicherer Hafen für politische Verfolgte aus ganz Europa. Zum Schlüsseljahr wurde 1848. Das Geburtsjahr des modernen Bundesstaats steht in vielen europäischen Staaten für gescheiterte liberale Revolutionen. Besiegte Revolutionäre aus ganz Europa flohen in den freisten Staat Europas. Für die junge Schweiz wurde es die erste Bewährungsprobe, wie die Historiker André Holenstein, Patrick Kury und Kristina Schulz im Buch «Schweizer Migrationsgeschichte» schreiben.  

Denn: Mit den politischen Flüchtlingen kam auch der Druck der Nachbarstaaten, die Rädelsführer auszuliefern. Der österreichische Staatsmann Fürst Metternich (1773–1859) wollte der Schweiz gar die Neutralität entziehen – so aufgebracht war er über die Asylpolitik. Vergeblich.

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts flüchteten dann viele Linke ins Land, unter ihnen der russische Anarchist Michail Bakunin (1814–1876). Sie waren dem Bundesstaat ungeheuer: 1889 richtete er eine neue Stelle zur Kontrolle politisch aktiver Ausländer ein. Der anarchistische Anschlag auf die Pariser Nationalversammlung 1894 und der Mord an Kaiserin Sisi durch einen italienischen Anarchisten in Genf führten zu weiteren Verschärfungen. Ab dem Ersten Weltkrieg verfolgte die Schweiz dann eine restriktive Migrationspolitik. 

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BLICK-Serie Royale Schweiz

Hat die Schweiz einen besonderen Bezug zu Königinnen und Kaisern, weil sie nie welche hatte? Dieser Frage geht Autor, BLICK-Kolumnist («Leuthen Vonz Heuthen») und Historiker Michael van Orsouw in einer sechsteiligen History-Serie nach. Bei den royalen Geschichten aus der Schweiz handelt es sich um vom Autor bearbeitete Vorabdrucke aus dem Buch «Blaues Blut», das Mitte August im Verlag Hier und Jetzt erscheint.

BLICK-Leser erhalten das Buch (312 Seiten, gebunden) zum exklusiven Vorzugspreis von 30 statt 39 Franken (inkl. Versandkosten). Bestellung mit Rabattcode «Blick-Royals» an admin@hierundjetzt.ch oder Telefon 056 470 03 00. 

Hat die Schweiz einen besonderen Bezug zu Königinnen und Kaisern, weil sie nie welche hatte? Dieser Frage geht Autor, BLICK-Kolumnist («Leuthen Vonz Heuthen») und Historiker Michael van Orsouw in einer sechsteiligen History-Serie nach. Bei den royalen Geschichten aus der Schweiz handelt es sich um vom Autor bearbeitete Vorabdrucke aus dem Buch «Blaues Blut», das Mitte August im Verlag Hier und Jetzt erscheint.

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