Innovationsschmiede CERN wird 70
Wo bahnbrechende Innovationen nur Beigemüse sind

Spitzenforscher aller Länder finden sich seit 70 Jahren am CERN bei Genf und ergründen ungelöste Geheimnisse des Universums. Dabei entstand sozusagen nebenher unter anderem das Internet. Ein Besuch in Europas Innovationsschmiede auf Schweizer Boden.
Publiziert: 07.07.2024 um 18:17 Uhr
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Aktualisiert: 08.07.2024 um 07:50 Uhr

Vor 70 Jahren gab es in Meyrin bei Genf hauptsächlich Felder. Steht man heute hinter einer mit langen Zäunen, Sensoren und Gittertoren geschützten Schranke vor unzähligen Büro- und Industriebauten, ist kaum zu glauben, dass hier, im Genfer Hinterland, vor nicht allzu langer Zeit die Welt verändert wurde. Für Sie, für mich, für nahezu alle Menschen dieser Erde, ausser man wohnt komplett abgeschieden von der Zivilisation in einem Stamm von Ureinwohnern auf einer unbekannten Insel.

Denn hier, in diesen unscheinbaren und nicht besonders schönen, dafür aber hoch gesicherten Industriegebäuden – es ist ein ganzer Komplex, fast schon ein Kleinstädtchen –, wurde 1954 der Grundstein für ein nationenübergreifendes Forschungsinstitut gelegt, aus dem bis heute Aussergewöhnliches entsteht: das CERN. 

Sonnenkollektoren, Internet, Krebstherapien und -diagnostik: alles Nebenprodukte der CERN-Forschung

Auf diesem Gelände, das sowohl auf schweizerischem wie auch auf französischem Boden liegt, hat etwa der britische Physiker und Computerwissenschaftler Sir Tim Berners-Lee (69) 1989 das World Wide Web erfunden. Es war eine der Entdeckungen, die wohl das grösste Veränderungspotenzial für unsere Gesellschaft seit der Innovation des Rads oder des Feuers hatte – mit allen guten und schlechten Folgen, die damals, zum Zeitpunkt der Erfindung, noch gar nicht abzuschätzen waren.

Das Besucherzentrum «Globe of Science» steht vor dem Eingang zum CERN. Ursprünglich war es für die Expo 02 konzipiert worden.
Foto: Getty Images
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Denn das Internet ist, wie so vieles, sozusagen ein «Abfallprodukt» des CERN. Berners-Lee, der für die Schaffung des Internets durch Königin Elizabeth II. in den Ritterstand erhoben wurde, hat es entwickelt, damit Forscher weltweit gemeinsam ihre Daten und Forschungsergebnisse austauschen können. 

1993 wurde das Internet öffentlich gemacht – und nichts ist seither wie zuvor: Ganze Berufsfelder und Industriezweige wurden ausgelöscht, dafür aber auch neue geschaffen. Unser Einkaufs- und Wahlverhalten, unsere Beziehungen und unsere Freundschaften haben sich durch Social Media unwiederbringlich verändert.

Das Internet ist nicht das einzige Nebenprodukt, das aus der Forschung bei Genf entstanden ist. Krebsdiagnostik und -früherkennung, Detektoren, die zur Erkundung von Hohlräumen wie Gletschern, Gebirgen oder Pyramiden eingesetzt werden können, leistungsstarke Sonnenkollektoren, Raumfahrttechnologie, Touchscreens, sichere E-Mail-Verschlüsselungen: All dies und mehr sind erfreuliche Nebenerzeugnisse, für die Forschungsteams am CERN in den letzten Jahrzehnten die Grundlagen entwickelt haben.

Das CERN wurde als Antwort auf den «Brain Drain» nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet

CERN steht für Conseil européen pour la recherche nucléaire, auf Deutsch die Europäische Organisation für Kernforschung. Wer beim Stichwort Kernforschung an Atombomben, Atomkraftwerke und radioaktive Strahlung denkt, liegt grösstenteils falsch: Bei der Gründung im Jahr 1954 wird in der Konvention festgelegt: «Die Organisation befasst sich nicht mit Arbeiten für militärische Zwecke.» Vielmehr sollen die Forschungsergebnisse für alle veröffentlicht und zum Nutzen der Allgemeinheit zugänglich gemacht werden.

Das Wort «grösstenteils» steht aus einem Grund da: Ohne die Weltkriege würde auch die Forschungsinstitution nicht existieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg leidet Europa unter einem «Brain Drain», viele führende Physiker und Ingenieure wie etwa Werner Heisenberg (1901–1976), Erwin Schrödinger (1887–1961) oder Niels Bohr (1885–1962) flüchten vor oder während des Kriegs vor den Nationalsozialisten und emigrieren nach England oder in die Vereinigten Staaten. Europa hat nach dem Zweiten Weltkrieg keine führende Rolle in der Wissenschaft mehr und droht vom Fortschritt abgehängt zu werden.

Es ist dann der britische Premierminister Winston Churchill (1874–1965), der – ein Jahr nach Kriegsende – das Steuer herumreisst. Er wird von der Universität Zürich zu einer Rede eingeladen. Diese mitreissende «Zürcher Rede» prägt bis heute unsere Geschichte: Churchill plädiert für ein Europa, das sich nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs zusammenrauft, auch gegen den wachsenden Einfluss der Sowjetunion und des Kommunismus.

Deutschland und Frankreich versöhnen sich

Am 19. September 1946 erhebt er die Aula der Uni Zürich mit folgenden Worten zur Bühne der Weltpolitik: «Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa errichten. Nur auf diese Weise werden Hunderte von Millionen hart arbeitender Menschen in die Lage versetzt, jene einfachen Freuden und Hoffnungen wiederzuerhalten, die das Leben lebenswert machen.»

Zum Erstaunen aller plädiert er auch auf eine Versöhnung zwischen den bis vor einem Jahr noch verfeindeten Kriegsparteien Deutschland und Frankreich: «Der erste Schritt zu einer Neuschöpfung der europäischen Völkerfamilie muss eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland sein. Nur so kann Frankreich seine moralische und kulturelle Führerrolle in Europa wiedererlangen.»

Während Frankreich zunächst eher verhalten auf Churchills Rede reagiert, findet die Idee in einigen visionären Köpfen sofort Niederschlag. Zum Beispiel beim aus den USA zurückgekehrten dänischen Physiker Niels Bohr oder beim deutschen Physiker Werner Heisenberg. Mit anderen Physikern erarbeiten sie ein Konzept eines länderübergreifenden Atomphysik-Labors. 

1951 überzeugt die Forschungsgruppe an einer Unesco-Konferenz in Paris insgesamt elf Regierungen europäischer Länder, sich dem Projekt anzuschliessen. Der erste Spatenstich im landwirtschaftlichen Weiler Meyrin bei Genf folgt bereits drei Jahre später, am 17. Mai 1954.

Ein Budget von über einer Milliarde Franken – von vielen, für alle

Heute finanzieren insgesamt 23 hauptsächlich europäische Nationen das internationale Forschungscenter. Am meisten tragen Deutschland und das Vereinigte Königreich mit 243 Millionen Franken und 185 Millionen Franken bei. Die Schweiz steht mit einem Budgetbeitrag von knapp 50 Millionen Franken an siebter Stelle. Insgesamt verfügt das CERN so über ein Jahresbudget von 1,1 Milliarden Franken.

Das CERN bleibt trotzdem, zumindest was Äusserlichkeiten betrifft, bescheiden: 70 Jahre nach dem ersten Spatenstich wandelt man durch die Gänge der diversen Bürogebäude und staunt darüber, wie unspektakulär der Ort grösstenteils aussieht. Dabei arbeiten heute rund 3400 der naturwissenschaftlich gesehen hellsten Köpfe der Welt aus rund 85 Nationen direkt am CERN zusammen, um den Geheimnissen unseres Universums auf die Spur zu kommen. Weitere 17'000 Forscher aus Universitäten aller Welt kommen noch dazu.

Das CERN ist erstaunlich jung – und eine soziale Vernetzungsanstalt

Man stellt sich komplexe Laboratorien vor, Menschen, die an High-End-Computern in Laborkitteln waghalsige, für Normalsterbliche nicht nachvollziehbare Experimente durchführen – und trifft grösstenteils auf schmucklose Mini-Büros, die sich gängelang labyrinthartig aneinanderreihen. Oftmals stehen da Wandtafeln, und oftmals stehen Menschen in Alltagskleidern ganz einfach gedankenverloren vor diesen Wandtafeln und sehen sich an, was darauf geschrieben steht.

Oft sind sie erstaunlich jung – die meisten von ihnen sind rund 27 Jahre alt. Dies, weil viele Forschende am CERN ihre Doktor- oder Post-doc-Arbeiten absolvieren und danach weiterziehen. Die Stimmung in der – exzellenten – grossen Kantine widerspiegelt das. Es wirkt, als herrsche eine aufgeräumte «Work hard, play hard»-Atmosphäre. Es gibt unzählige Freizeit-Organisationen und Klubs, vom Tischtennis bis zum Skifahren, unzählige Events und auch Partys, bei denen sich die jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler austauschen und sozial vernetzen können.

In einem Gebäudekomplex auf dem Campus gibt es sogar eine Post. Theoretisch könnte man das Gelände über ein gesamtes Doktorat gerechnet gar nicht verlassen und hätte trotzdem alle nötigen Annehmlichkeiten. Nach ein bis drei Jahren ziehen die jungen Forschenden weiter – und tragen das am CERN gewonnene Wissen und insbesondere auch ihr Netzwerk mit hinaus in alle Welt. Das CERN ist so auch über das Soziale eine Keimzelle für Innovation in aller Welt.

Ständige Kollisionsschauer sorgen für Unmengen an Daten darüber, was kurz nach dem Urknall passiert ist

Die High-End-Experimente finden natürlich trotz bescheidener Büros und vielfältiger Freizeitaktivitäten der Doktoranden ständig statt. Nur unterirdisch. Im Grenzgebiet zwischen Frankreich und der Schweiz verläuft im Boden eine 26,7 Kilometer lange Ringröhre, das Herzstück des CERN. Darin lassen die Forschenden Hadronen beschleunigen; das sind unter anderem Teilchen, die Bestandteile der Atomkerne sind, wie etwa Protonen. Im Large Hadron Collider (LHC) prallen dann diese Hadronen in hoher Geschwindigkeit aufeinander und brechen deshalb in sogenannte Elementarteilchen auseinander.

Man muss sich diese Kollisionen nicht als Einzelteilchen und einzelne Kollisionen vorstellen, sondern als dauerhafter Kollisionsschauer einer Menge von so beschleunigten Teilchen. Die Elementarteilchen, die so entstehen und oft nahezu sofort wieder zerfallen, werden an mehreren Stellen im Ring mit ausgeklügelten, zwiebelartig aufgebauten Detektoren registriert, via KI grob gesagt in «interessant» oder «schon längst bekannt» sortiert und vermessen.

Zurück auf dem Erdboden angelangt, sieht man davon bei einem Besuch am CERN meist einen der insgesamt vier Kontrollräume: das «Atlas»-Projekt. Rund 30 Menschen arbeiten dort vor Bildschirmen, auf denen in Echtzeit die unmittelbaren Daten und Messungen aus den Kollisionen, die darunter stattfinden, flackern.

Sie alle suchen nach sogenannten Elementarteilchen, die aus der Zertrümmerung dieser Hadronen, nach denen der Beschleuniger benannt ist, entstehen. Ihre Hoffnung: Antworten auf manche Fragen, die die Entstehung und das Verhalten unseres Universums betreffen.

Einer der grössten Durchbrüche ist bereits geschehen: 2012 fanden Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen am CERN das theoretisch vorhergesagte Elementarteilchen namens Higgs-Boson. Das Higgs-Boson sorgt vereinfacht gesagt dafür, dass andere Teilchen überhaupt zu Masse kommen. 2013 wurde dafür den Physikern François Englert (91) und Peter Higgs (1929–2024) der Nobelpreis verliehen.

Der Stern des CERN könnte in Zukunft etwas verblassen – China könnte ihm den Rang ablaufen

Trotz Entdeckungen und Nobelpreisen sind in der Teilchenphysik noch viele Fragen offen: So ist zum Beispiel nur fünf Prozent aller Masse – Sterne, Planeten, Bäume, Wasser, wir selbst – im Universum bekannt. Der Rest ist sogenannte «dunkle Materie» und «dunkle Energie», die dafür verantwortlich sein könnte, dass unser Universum immer weiter auseinandertreibt. Und um sie nachzuweisen, könnten Experimente im Hadron Collider helfen.

Hierfür wird aber bald ein neuer Collider nötig. Pläne, einen neuen, grösseren Tunnel mit 90 bis 100 Kilometern Durchmesser zu bauen, haben aber soeben einen Dämpfer erhalten. 15 Milliarden Franken soll die erste Phase des Grossprojekts kosten, die zweite nochmals 20 Milliarden. Deutschland hat gerade letzte Woche verlauten lassen, dass es momentan seinen Teil der dazu benötigten Milliarden nicht budgetieren wird.

Kommt hinzu, dass auch China Pläne schmiedet, einen grossen Collider zu bauen. Es könnte also sein, dass die Leuchtturm-Funktion, die das CERN während rund 70 Jahren weltweit eingenommen hat, bald schon gedimmt wird und China der neue Hauptforschungsstandort für Kernforschung wird. Ob aber die aus China resultierenden Forschungsergebnisse dann genauso frei mit der ganzen Welt geteilt werden, wie das am CERN aktuell geschieht, das bleibt fraglich.

Hingehen: Am 8. Oktober 2023 wurde die spektakuläre Ausstellung «Science Gateway» am CERN eröffnet. Mit bereits 250'000 Besucherinnen und Besuchern hat die Ausstellung sämtliche Erwartungen stark übertroffen.  

Der Eintritt ist frei. Sehr zu empfehlen sind die Wissenschaftsworkshops für Kinder und Erwachsene. Platzzahl beschränkt, auf «First come, first served»-Basis. Hier gibt es mehr Informationen.


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