Mit Hirschen und Rehen als Nachbarn im Prättigau
Einsiedler (64) wohnt fast autark in einer Jagdhütte

Hans-Andrea Ratz (64) wohnt seit 16 Jahren in einer abgelegenen Jagdhütte oberhalb von Schiers GR. Ganz freiwillig hat er sich jedoch nicht auf den Berg verzogen und dort auf jeglichen Komfort verzichtet.
Publiziert: 18.06.2023 um 10:04 Uhr
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Aktualisiert: 19.06.2023 um 16:05 Uhr

Es herrscht Ruhe bei Hans-Andrea Ratz auf 1704 Metern über Meer im Prättigau. Einzig das Radio von Hans-Andrea, wie er von allen genannt wird, dudelt im Hintergrund, und Vögel zwitschern, während der Bündner ausführlich und mit Humor von seinem Einsiedlerleben erzählt.

Es sind denn auch die Vögel, die den IV-Rentner in seiner einfachen Hütte morgens um fünf Uhr jeweils wecken. Hans-Andrea lebt mit seinen beiden Katzen «Pimpi» und «Chatzi» seit 16 Jahren allein in der Jagdhütte, die sein Vater mit dessen Brüdern 1963 erstellte. Schon als Kind war Hans-Andrea mit seinem Vater und anderen Jägern oft und gern hier oben. Seit 16 Jahren ist die Hütte sein Zuhause. Nicht ganz freiwillig, wie Hans-Andrea erzählt.

Gesundheitliche und finanzielle Probleme nach Autounfall

Nach einem schweren Autounfall konnte der gelernte Automechaniker aus gesundheitlichen Gründen in der Berufswelt nicht mehr richtig Tritt fassen und beschloss, an seinem Wohnort mit seinem Bruder einen Neubau mit einer Wohnung, einer Autogarage und einem Holzbetrieb für den Bruder zu erstellen. Kleinere Autoreparaturen und Radwechsel hätte der Automechaniker, der nur eine Viertelrente der IV erhält, bis zur Pensionierung noch ausführen können. Die Behörden durchkreuzten aber seine Pläne.

Abgelegen auf 1704 Meter über Meer oberhalb von Schiers wohnt Hans-Andrea Ratz (64) in dieser Jagdhütte.
Foto: Zamir Loshi
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«Als nur ein Gewerbebetrieb bewilligt wurde, war ich sauer, habe alles meinem Bruder verkauft, bin aus meiner kleinen Wohnung aus- und in die Jagdhütte gezogen. Mit so wenig Geld von meiner Rente blieb mir nicht viel anderes übrig», erzählt Hans-Andrea. Verbittert ist der geschiedene Bündner mit zwei erwachsenen Söhnen, die im Dorf Schiers leben, nicht – auch wenn sich sein Leben seither komplett geändert hat.

Keine Mühe mit dem Alleinsein

«Früher war ich ein Festbruder und oft in der Beiz. Jetzt gehe ich immer früh ins Bett», sagt Hans-Andrea lachend. Seit er in der Hütte lebt, ist er den ganzen Winter allein. In den Sommermonaten sind jeweils 230 Kühe und Kälber auf den saftigen Wiesen und Weiden auf dem Berg. Im Winter lassen sich neben seinen Katzen und den Vögeln höchstens Gämse, Rehe und Hirsche bei ihm blicken – oder gelegentlich Skitourenfahrer.

Die abgelegene Jagdhütte ist nur bis zum Schneefall mit Sonderbewilligung für landwirtschaftliche Fahrzeuge erreichbar und bis etwa April komplett vom Dorf abgeschieden. Einsam fühlt sich der Bündner aber nicht. Das Alleinsein macht ihm keine Mühe. «Ich vermisse hier oben überhaupt nichts und geniesse die Ruhe», sagt er. Zum Zeitvertreib und aus Interesse misst er jeden Winter täglich die Schneedecke und führt Buch. Rekordhohe Schneemassen von zehn Metern notierte er 2012. Als aussergewöhnlich hat er zudem den 14. März 1999 in Erinnerung, mit Schneefall bis vier Meter.

Vorräte für den ganzen Winter

Für den ganzen Winter deckt er sich jeweils mit Vorräten ein und füllt seinen Tiefkühler mit Fleisch von der Jagd und Würsten, die von ihm und den Jägern, die im Herbst jeweils während der Jagdsaison bei ihm hausen, verarbeitet und geräuchert werden. «Gemüse mag ich nicht so. Karotten, Zwiebeln und Knoblauch sind aber gut haltbar. Brot kann ich selbst backen, und meinen Kaffee trinke ich schwarz.» In diesem milden Winter konnte er Anfang Januar letztmals Vorräte einkaufen. Es gab aber auch schon Winter, wo er bereits ab Oktober eingeschneit war und bis im Mai nicht ins Dorf konnte. «Schlimmstenfalls bringt mir der Helikopter das Nötigste.» Das versucht der Einsiedler aus Kostengründen tunlichst zu vermeiden, was ihm auch fast jeden Winter gelingt.

Erbe frühzeitig geregelt

Die Jagdhütte haben Hans-Andrea und sein Cousin von ihren Vätern geerbt. Sie konnten sie 1995 etwas vergrössern. Hans-Andrea lebt kostenlos in der Hütte, kommt aber für die Versicherungen und den Unterhalt auf. Hans-Andreas Bruder Arnold und andere Verwandte aus dem Dorf, etwa Hans-Andreas Söhne, wohnen jeweils in der Jagdsaison in der Hütte. Das Erbe haben Hans-Andrea und sein Cousin schon frühzeitig geregelt: «Die Jagdhütte bleibt in Familienbesitz. Ich habe sie meinen Söhnen überschrieben.»

Wasser von der Quelle, Strom von der Sonne

Die einfache Hütte ist nicht an die Kanalisation angeschlossen und hat weder Heizung, Toilette noch Dusche. «Hier ist keine Strasse, darum muss die Hütte auch nicht an die Kanalisation angeschlossen werden», erklärt Hans-Andrea. Ein Toi-Toi-WC steht im Freien, und frisches Wasser hat er von der nahen Quelle. «Ich habe die Wasserqualität prüfen lassen. Es ist einwandfreies Trinkwasser», sagt Hans-Andrea. Im Sommer kann er im Freien duschen, im Winter muss er das Wasser jedoch abstellen, damit es in der Leitung nicht einfriert. Dann ist «Katzenwäsche» wie anno dazumal mit Waschschüssel und Waschlappen angesagt – mit Wasser, das er auf dem Gasherd erwärmt. «Ich war als Kind oft im Maiensäss meines Onkels. Da hatten wir auch keinen Luxus. Das geht schon.»

Hätte er mehr Platz, wünschte er sich aber schon eine Toilette und eine Dusche im Haus, gibt Hans-Andrea zu: «Nachts bei Minusgraden aus der Hütte aufs WC ist schon nicht angenehm. Eine Bewilligung, die Hütte zu erweitern, bekomme ich aber sicher nicht», meint er. Strom hat er dank Solarpanels und Speicheranlage, die ihm seine Söhne und andere Junge aus der Verwandtschaft aus dem Dorf installiert haben. «1500 Ampere-Stunden Speicherkapazität reichen gut für meinen Strombedarf. Ich habe sogar eine Waschmaschine in der Hütte, Internet, und mein Radio läuft den ganzen Tag.»

Massenlager in der Jagdsaison

Geheizt wird mit dem Ofen in der kleinen Stube neben der kleinen Küche. Der Holzvorrat wird im Freien überdacht vor der Küche gelagert. «Ich muss nie frieren und schlafe auch im Winter bei geöffnetem Fenster. Bei einem Wintersturm kann es aber sein, dass am Morgen Schnee in meinem Schlafraum liegt», sagt er lachend. Eine steile Treppe führt vom Wohnzimmer unters Dach, wo Hans-Andrea sein Bett hat. Ein weiteres Bett hat sein Bruder, und für die anderen Jäger gibt es im vorderen Bereich ein Kajütenbett und weitere Schlafplätze unter dem Dach. Für die unkomplizierten Jäger sind die engen und einfachen Verhältnisse kein Problem.

Für Hans-Andrea sind die Jagdsaison und die Gesellschaft mit den Jägern noch immer ein Highlight, auch wenn er selbst nicht mehr zur Jagd kann. «Ich kann nicht mehr gut laufen, und der Jagdschein ist mir zu teuer», sagt er. Beim Wursten und Räuchern mit seinen Söhnen Andres (30) und Moreno (31), beide leidenschaftliche Jäger, hilft er aber immer mit. Zum Räuchern gibt es auch eine Räucherkammer neben der Hütte.

Zukunft in den Bergen

Spricht Hans-Andrea von seinen Söhnen, wird die Stimme des Berglers weich und der väterliche Stolz auf seine «Buben» deutlich: «Sie sind grossartig und immer für mich da.» So auch nach seiner Hüftoperation vor einigen Jahren. So rasch wie möglich wollte Hans-Andrea wieder in seine kleine Hütte und hat sich im Erdgeschoss so eingerichtet, dass er seinen Alltag wieder selbst bewältigen kann. Auch in absehbarer Zukunft will er nicht weg von seinem kleinen, ruhigen Paradies auf dem Berg. Hans-Andrea: «Solange ich kann, bleibe ich hier.»

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