Ausgefischt: Wie ein Dok-Film uns den Appetit verdirbt
Von «Blood Shrimps» und blutroten Meeren

Für viele Menschen in anderen Weltregionen ist Fisch eine Hauptnahrungsquelle. Wir allerdings sollten auf ihn verzichten, meint SonntagsBlick-Redaktorin Camille Kündig.
Publiziert: 11.04.2021 um 10:46 Uhr
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Camille Kündig

Pünktlich zum Karfreitag wurde ich geangelt. Der Köder war ein Netflix-Trailer: schnelle Schnitte, starke Statements, Bilder vom blutrot gefärbten Meer. Eineinhalb Stunden später war mir der Appetit auf Fisch vergangen.

«Seaspiracy» gehört in mehr als 30 Ländern zu den Top 10 der am meisten abgerufenen Video-Inhalte und ist in den sozialen Medien seit einer Woche Dauerthema. Zu Recht.

Der Filmemacher Ali Tabrizi führt in einer aufwühlenden Odyssee durch die Probleme der globalen Fischerei-Industrie: Riesenfrachter, die das grösste Ökosystem der Welt mit gewaltigen Bodenschleppnetzen leer fräsen; Umweltlabels, die uns in falscher Sicherheit wiegen lassen, ungewollter Beifang; fehlende staatliche Kontrollen; und Ozeane voll herrenloser Fischernetze, die letztlich als Mikroplastik in unseren Fischstäbchen landen.

Wir sehen, wie sich Buchten der Färöer-Inseln rot färben, wenn deren Bewohner traditionsgemäss Grindwale umzingeln und töten. Wie Fischer in Asien Delfine abschlachten, weil sie die als Konkurrenz betrachten, und wie die Überfischung Menschen in Westafrika dazu zwingt, auf Buschfleisch auszuweichen. Der Regisseur spricht mit versklavten Fischern, die von Folter und Mord an ihren Kollegen auf den Booten berichten. Statt um Blutdiamanten geht es in «Seaspiracy» um «Blood Shrimps». Tabrizis Botschaft: Nachhaltige Fischerei ist ein Mythos. Wirklich ethisch wäre einzig, keinen Fisch mehr zu essen.

Kulinarische Gewohnheiten sind immer wieder Auslöser hitziger Debatten. Mit der Pandemie sind sie noch stärker in den Fokus gerückt. So gross der Hype um diese Dokumentation, so scharf ist auch die Kritik daran. Reisserisch sei sie, ihre Aussagen seien aus dem Kontext gerissen und Zahlenangaben inkorrekt.

Irritierend ist tatsächlich, dass sich Tabrizi als einfacher Youtuber und Einzelkämpfer inszeniert, der ohne jede Unterstützung gegen eine globale Mafia kämpft. Bis der Abspann zeigt, wie viele Menschen tatsächlich hinter dem Film stecken, der einem Blockbuster-Thriller mit Tabrizi als Schwarzenegger der Meere gleicht.

So aber gelingt es den Machern der Dokumentation, ein wichtiges Thema packend zu erzählen. Hätten sie nicht auf raffiniertes Storytelling gesetzt, wäre «Seaspiracy» in den Tiefen eines Arte-Archivs untergegangen.

Relevant ist zudem nicht, ob die Meere tatsächlich bereits 2048 tot sein werden oder erst später, wie Kritiker nun betonen. Die Problematik bleibt: Durch die industrielle Fischerei leiden Mensch und Natur.

Und während in den letzten Jahren immer mehr Konsumenten das Fleisch aus ihrem Speiseplan gestrichen haben, essen die meisten weiterhin Fisch. Lebewesen, die an Land geboren sind, scheinen unsere Empathie eher zu verdienen als Meeresbewohner. Dabei haben englische Forscher bereits 2019 sämtliche alten Angler-Mythen widerlegt: Fische empfinden tatsächlich Schmerz – und zwar ganz ähnlich wie wir Menschen.

Für viele Bewohner anderer Weltregionen ist Fisch eine Hauptnahrungsquelle. Sie können nicht einfach darauf verzichten. Wir allerdings ohne weiteres ...

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