Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Heute Skifahren, morgen der Überwachungsstaat?

Die Schweiz steht auf der Liste der Corona-Sterblichkeit pro Kopf auf dem 13. Platz. Am unteren Ende der Liste rangieren Staaten in Ostasien. In Taiwan hat Corona seit Beginn der Pandemie sieben Menschen getötet. Warum Asien trotzdem nicht unser Vorbild sein kann.
Publiziert: 29.11.2020 um 08:59 Uhr
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Aktualisiert: 05.12.2020 um 23:11 Uhr

Vor einer Woche machte SonntagsBlick die hohe Zahl von ­Corona-Toten in der Schweiz zum Thema. Hierzulande liegt das ­Risiko für Senioren an Covid-19 zu sterben, derzeit sechsmal höher als in Schweden. Die Verantwortungsträger in der Politik übergehen dieses Drama mit einer Nonchalance, die nur als ­zynisch bezeichnet werden kann.

Auf der Redaktion meldeten sich überwältigend viele Leserinnen und Leser. Offizielle Stellen mögen das grosse ­Sterben beschweigen – die Menschen äussern sich traurig und bestürzt. Trotz Social Distancing gibt es Solidarität und Mitgefühl.

Aktuell stehen wir auf der Liste der ­Corona-Sterblichkeit pro Kopf an 13. Stelle (letzte Woche war es, bei ­einer leicht tieferen Mortalität, Platz 10). Am unteren Ende der Liste ran­gieren Staaten in Ostasien. In Taiwan etwa hat Corona seit Beginn der Pandemie sieben (!) Menschen getötet – bei 24 Mil­lionen Einwohnern.

SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty.

Als Insel hat Taiwan natürlich Vorteile. Ebenso entscheidend freilich ist, dass das Land mit modernster Technik ­gegen das Virus vorgeht. Gewiss, wir haben uns alle an Schlagwörter wie Big Data und künstliche Intelligenz ­gewöhnt. Und doch: In der Schweiz ist das flächendeckende Homeoffice der einzige nennenswerte Beitrag, den die Digitalisierung zur Eindämmung der Pandemie leistet.

Jürgen Schmidhuber ist Direktor des Forschungsinstituts für künstliche ­Intelligenz in Lugano und gilt als einer der brillantesten Informatiker unserer Tage. In einem Mail an SonntagsBlick ­beschreibt er den Unterschied zwischen Asien und der Schweiz: «Nationen wie China, Taiwan oder Singapur verfolgen Infektionsketten ihrer ­ Einwohner durch deren Smartphones und durch automatische Pers­onenerkennung.»

Für die meisten von uns sind solche Techniken ein Schreckensszenario. Doch Überwachungsstaaten, sagt Schmidhuber, seien in der Pandemie im ­Vorteil gegenüber Ländern, die Wert auf Privatsphäre und Datenschutz legen. Der Professor wagt darum die Pro­gnose: «Westliche Länder werden wider­willig mehr so werden wie die Überwachungsstaaten – wie China. Kein Argument ist über­zeugender als der Tod.»

Am Anfang der Moderne stand der Ausbruch der Pest Mitte des 14. Jahrhunderts. So sieht es der Historiker Klaus Bergdolt in seinem Standardwerk «Der Schwarze Tod in Europa». Weil die Seuche Millionen Menschen dahinraffte und Arbeitskräfte plötzlich rar waren, kam das Konzept der «Arbeitszeit» in die Welt. Die mechanische Uhr wurde wichtig, ermöglichte mitunter systematische Nachtarbeit. Das Leben funktionierte zunehmend unabhängig von der Natur.

Aber muss uns Covid-19 jetzt wirklich in eine menschenfeindliche Digitalmoderne befördern, wie man sie in China ­bereits besichtigen kann?

Corona ist nicht die Pest. Und ein Stück weit haben wir es alle in der Hand, die Krankheit auch anders zu bewältigen: mit Umsicht und Rücksicht. Einfach wird das nicht, im Gegenteil. Die Politik legt es geradezu darauf an, dass Gefahrenherde geschaffen werden – indem sie etwa dazu aufruft, massenhaft zum Skifahren in die Berge zu fahren oder zum Shoppen in die City.

Was können wir zum Beispiel tun? Wenn heute Sonntag nicht die halbe ­Romandie an den Zürcher Weihnachtsverkauf stürmt, ist das Risiko eines ­Super-Superspreading-Events zumindest abgeschwächt. Weitere Herausforderungen werden allerdings folgen.

Wie gesagt: Die Menschen in der Schweiz haben Solidarität und Mitgefühl nicht verlernt. Das ist im ­Grunde nicht die schlechteste Voraussetzung, um besser mit der Be­drohung umzugehen, als dies in den letzten Wochen der Fall war.

Gelingt uns dies und kommen wir über den Winter, ohne noch mehr Senioren fahrlässig den Corona-Tod sterben zu lassen – dann besteht doch etwas Hoffnung, dass der Überwachungsstaat für niemanden zum Sehnsuchtsort wird, sondern eine Horrorvorstellung bleibt.

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