Kolumne «Alles wird gut» über ein Mittel gegen Stress
Lob der Schlampigkeit

Immer mehr, immer besser, immer effizienter! Unsere Tage sind voll mit Aufgaben. Doch diese sind nie erledigt – stattdessen sind es wir. Was können wir dagegen tun? Am besten nichts.
Publiziert: 17.01.2022 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 16.01.2022 um 18:56 Uhr
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Ursula von ArxJournalistin und Buchautorin

Welche Ehre, dass Sie Zeit gefunden haben, dies hier zu lesen! Denn Sie sind bestimmt sehr beschäftigt, möglicherweise gar gestresst. Das neue Jahr ist noch so jung, und bereits fühlen sich viele wieder ähnlich unter Druck wie im alten.

Wie sollte es anders sein? Wir wurden dazu erzogen, eine volle Agenda als Zeichen für Status und Sexyness zu lesen. Nur Versager haben Zeit. Ein geglücktes Leben führt, wer in Aufgaben und Verantwortlichkeiten ertrinkt.

Früher war es ein Privileg der Reichen und Mächtigen, nicht immer arbeiten zu müssen. Sie konnten über einen Satz nachdenken, stundenlang, wenn es das war, was sie wollten, zum Beispiel über diesen Satz aus Goethes «Wahlverwandtschaften»: «Ziehen wir uns nicht morgens an, um uns abends wieder auszuziehen?» Oder sie konnten die Kirchturmspitze polieren mit ihrem Blick oder Flöte spielen oder sich tagsüber ins Bett legen und wähnen, sie schaukelten auf der Arche Noah. Sie konnten auch einfach nichts tun.

To-do-Listen ohne Ende

Heute hingegen arbeiten alle immerzu, auch die Reichen und Mächtigen. Wir versuchen, die Zeit immer noch besser zu nutzen, noch produktiver zu werden, noch disziplinierter, noch effizienter, noch effektiver. E-Mail, Internet, Geschirrspülmaschine, Waschmaschine oder Flugzeug helfen uns zusätzlich, Zeit zu gewinnen.

Und je schneller wir die To-do-Listen abarbeiten, desto länger werden sie. Je mehr zeitsparende Technologie wir benutzen, desto weniger Zeit haben wir. Eine Minute warten vor der Mikrowelle für eine heisse Lasagne? Eine Zumutung! Hat der TGV von Basel nach Paris zehn Minuten Verspätung, werden wir nervös.

Was können wir tun gegen den «Rebound-Effekt», wie Ökonomen das Phänomen nennen, dass Effizienzsteigerung paradoxerweise oft zu mehr Energieverbrauch führt und nicht zu weniger?

Liegen lassen, liegen bleiben

Vielleicht sollten wir einfach schlampiger werden. Leben heisst auswählen. Ab sofort beantworten wir nur noch die wichtigen E-Mails, kämpfen nur noch die wichtigen Kämpfe, besuchen öfter unsere Freunde. Und wenn uns danach ist, lassen wir die Socken auf dem Wohnzimmerboden liegen, das Geschirr in der Küche stehen und machen die Welt zu einem besseren Ort, indem wir in aller Musse ein heisses Bad mit Rosenduft einlassen. Alles wird gut.

Ursula von Arx freut sich auf leere Stunden und Tage. Auch wenn es schwierig sein kann, etwas wirklich Schönes daraus zu machen. Sie schreibt jeden zweiten Montag im Blick.

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