Kolumne «Meine Generation» über das Wort «cringe»
Wie ein kleines Wort uns lähmt

Meine Generation fürchtet sich so sehr davor, peinlich zu sein, dass sie lieber nichts mehr macht. Schuld ist ein kleines Wort aus den USA. Wie peinlich!
Publiziert: 29.07.2022 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 29.07.2022 um 12:26 Uhr
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Noa DibbaseyKolumnistin

Es ist 2017, und wir geniessen das Leben. Kümmern uns um unseren eigenen Kram. Machen, worauf wir Lust haben. Und plötzlich war es da. Das Wort, das sich aus den Tiefen des amerikanischen Wortschatzes ins Internet gezwängt und von dort in unsere hintersten Hirnzellen gebrannt hat. Das Wort, das gekommen ist, um zu bleiben und unser Leben für immer zu verändert. «Cringe».

Sie denken sicher, ich übertreibe. Wie kann ein englisches Wort mit sechs Buchstaben eine ganze Generation prägen? Aber glauben Sie mir: Für einmal bin ich nicht überdramatisch.

Alles ist «cringe»

Der Begriff «cringe», der eine tiefe (Fremd-)Scham beschreibt, hat sich so schnell und tief in unserem Sprachgebrauch eingenistet, dass es scheint, er sei schon immer da gewesen. Und seither machen wir inflationär und ohne Abstriche Gebrauch von ihm.

Blick-Kolumnistin Noa Dibbasey.

Alles ist «cringe» – also irgendwie peinlich. Egal, ob man ein neues Musikprojekt starten, einem heissen Typen seine Nummer zustecken, ein Festival planen, im Regen tanzen oder eine Kolumne im Blick schreiben will. Es spielt keine Rolle – irgendwer wird die Aktion mit «cringe» kommentieren.

Wenn die Angst uns lähmt

Und eigentlich ist das ja okay. Es haben noch nie und werden auch nie alle toll finden, was man selbst tut. Aber weil uns das Wort so penetrant im Nacken sitzt, gewinnt das Urteil anderer (und letztlich auch das eigene) überproportional an Gewicht.

Wie oft habe ich mir schon den Kopf zerbrochen, ob andere meine Ideen als «cringe» abstempeln könnten – und sie dann wieder begraben. «Cringe»-Furcht siegt über den eigenen Willen. So geht es vielen.

Und das ist ein Problem. Die Hemmschwelle, sich aus seiner Komfortzone zu begeben, ist viel höher geworden.

Wir haben die Relevanz eines Sandkorns

Ich will nicht sagen, meine Generation sei weniger kreativ oder mutig. Aber ich glaube, wir haben ziemlich viel unausgeschöpftes Potenzial. Wenn wir dieses fiese Wörtli wieder in die Tiefen des amerikanischen Wortschatzes verbannen könnten, fiele es der ein oder anderen vielleicht leichter, über den eigenen Schatten zu springen.

«Cringe» hat nüchtern betrachtet einfach dazu geführt, dass wir uns viel zu ernst nehmen und vergessen, dass wir und alles, was wir tun, global betrachtet die Relevanz eines Sandkorns besitzt.

Eigentlich ist es «cringe», ständig alles und jeden «cringe» zu finden. Nichts ist «cringe», wenn man Freude daran hat. Ausser vielleicht wenn jemand sagt: «Klimawandel ist perfekt fürs Toggenburg.» Lieber Toni Brunner, das ist dann wirklich «cringe».

Noa Dibbasey (21) studiert an der Universität Bern Sozialwissenschaften. Sie schreibt jeden zweiten Freitag im Blick.

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