Kolumne «Meine Generation» über Endlosmusik und Festivals
Live fürs Leben gern

Es gibt so viel unerhört gute Musik! Aber viele Songs bleiben ungehört. Sie gehen unter im Meer des Überangebots. Zum Glück ist das an Festivals anders.
Publiziert: 17.06.2022 um 08:00 Uhr
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Aktualisiert: 16.06.2022 um 19:21 Uhr
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Noa DibbaseyKolumnistin

Ich schreibe diesen Text aus meinem zweiten Daheim: der Universitätsbibliothek Bern. Seit Wochen verbringe ich jeden einzelnen (und sonnigen) Tag hier. Es ist dunkel und kalt, und meine letzten beiden funktionierenden Hirnzellen sind drauf und dran, den Geist aufzugeben.

Es ist trist zwischen all den verstaubten Büchern, die niemand mehr liest, und den anderen gequälten Studentinnen. Einzig die Musik aus meinem Kopfhörer lenkt mich ab und an von meiner Misere ab. (Und meine Freundinnen, aber ich möchte mich hier als einsames Uni-Opfer inszenieren, und ausserdem geht es in diesem Text um Musik.)

Eine beschwingte Melodie, eine freche Rapzeile oder eine gefühlvolle Soul-Stimme können einem für einen Moment eine Welt ausserhalb der grauen Bibliotheksmauern in fast greifbare Nähe bringen. Sie machen alles ein wenig erträglicher.

Kolumnistin Noa Dibbasey sehnt sich nach Livemusik.
Foto: DUKAS
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Netflix-Effekt, Spotify-Effekt

Bis vorgestern. Da wurde mir auch meine letzte Freude geraubt: Ich wusste nicht mehr, was ich mir anhören sollte. Obwohl mir jedes Lied der Welt zur Verfügung stand. Genau das war das Problem.

Die riesige Auswahl an Musik überforderte meine beiden Hirnzellen so stark, dass sie kollabierten. Ich hatte eine halbe Stunde damit verbraten, nach irgendwas Hörbarem zu suchen, danach verbrachte ich eine weitere mit der Frage, wie es sein kann, dass man früher in einem Jahr zwei CDs rauf und runter hörte und ich mich jetzt über Überfluss beklage.

Die Antwort: der Netflix-Effekt! Immer öfter höre ich von Freunden, dass sie Netflix öffnen, sich ewig durch die unendliche Palette an immer neuen Filmen und Serien kämpfen und schliesslich erschöpft vom Suchen den Laptop wieder zuklappen. Bei mir nun dasselbe, halt auf Spotify.

Mehr als zwei Minuten Magie

Dort geben Produktionsfirmen ihren Künstlerinnen vor, möglichst viele und möglichst kurze Songs zu veröffentlichen – so maximiert man auf Streamingplattformen den Gewinn. Jeden Donnerstag um 11.59 Uhr erscheint also ein Haufen neuer Musik, vieles klingt auch super. Und gerät superschnell in Vergessenheit.

Es ist wunderbar, dass so viele talentierte und begeisterte Menschen so viel tolle Musik produzieren. Und es ist höchste Zeit für den Festivalsommer. Wir brauchen wieder Livemusik! Dank ihr beschäftigen wir uns länger als zwei Minuten mit einer Künstlerin. Und können die Arbeit hinter, die Magie an und den Wert der Musik richtig schätzen. Mir geht es jedenfalls so, und ich glaube, ich bin nicht allein damit.

Noa Dibbasey (21) hat ihre letzte Prüfung abgelegt, wenn Sie dies lesen. Nun feiert sie den Beginn der Semesterferien mit ihren Freundinnen (und hoffentlich guter Musik) in Paris. Sie schreibt jeden zweiten Freitag im Blick.

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