Kolumne «Weltanschauung» von Giuseppe Gracia
Schmaler Grat zwischen normal und verrückt

Eine Ausstellung in St. Gallen gibt berührende Einblicke in den Alltag von Psychiatrie-Patienten. Die Fotos zeigen, wie dünn die Trennwand zwischen normal und verrückt ist – und wie relativ.
Publiziert: 26.04.2021 um 10:39 Uhr
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Aktualisiert: 09.05.2021 um 16:11 Uhr
Giuseppe Gracia

Mit der Ausstellung «Durch die Linse» zeigt das Museum im Lagerhaus St. Gallen Aufnahmen des Fotografen Roland Schneider, die er 1987 in der Psychiatrischen Klinik Solothurn als Patient mit der Kamera festhielt. Dazu gibt es Aufnahmen des ehemaligen Psychiatriepflegers und Künstlers Willi Keller, der den Alltag der Psychiatrischen Klinik Burghölzli um 1970 fotografiert hat. Damals, vor 50 Jahren, bemühte sich die Leitung der Klinik um eine Öffnung der Psychiatrie. Mit den Aufnahmen von Willi Keller wollte man der Öffentlichkeit Ausschnitte aus einer unbekannten Welt präsentieren. Dazu kam es nie.

Bei einer Brandkatastrophe am 6. März 1971 sind 28 Patienten erstickt und verbrannt. Von vielen Opfern hat Willi Keller das letzte Bild geschossen. Nach dem Unglück war an eine Veröffentlichung dieser Aufnahmen nicht mehr zu denken. Aufnahmen, die im Archiv des Künstlers vergessen gingen. Erst heute, ein halbes Jahrhundert nach dem Brand, werden die Bilder ausgestellt, begleitet von Texten Kellers, mit denen er das damalige Klinikleben protokollierte. Das verleiht der Ausstellung den Charakter eines fotografischen Tagebuchs.

Wahn, Traurigkeit, Kindlichkeit

Beeindruckend und intim ist der Einblick, den dieses Tagebuch möglich macht. Eine internierte Welt an den Rändern der Gesellschaft erwacht zum lebendigen, alltäglichen Mittelpunkt. Erstaunlich und heute undenkbar: die Offenheit der Klinikleitung, mit der sie die Fotografen frei umhergehen und arbeiten liess. Unglaublich die Gesichter und die Augen, die zu sehen sind. Gesten und Blicke, die von einem Leben auf dem Hochseil zwischen Einsamkeit und Sehnsucht erzählen, zwischen Wahn, Traurigkeit und Kindlichkeit.

Giuseppe Gracia, Schriftsteller.
Foto: Thomas Buchwalder

Es ist gut, dass es solche Bilder und Ausstellungen gibt. Sie erinnern nicht nur daran, wie dünn die gesellschaftliche Trennwand zwischen normal und verrückt ist, sondern auch, wie relativ. Mit den Worten des russischen Schriftstellers Fjodor M. Dostojewski (1821–1881): «Dadurch, dass man einen anderen ins Irrenhaus sperrt, beweist man noch nicht seinen eigenen Verstand.»

Giuseppe Gracia (53) ist Schriftsteller und Kommunikationsberater. Sein neuer Roman «Der letzte Feind» ist im Fontis Verlag, Basel, erschienen. Gracia schreibt jeden zweiten Montag im Blick.

Die Ausstellung «Durch die Linse» im Museum im Lagerhaus St. Gallen ist bis zum 11. Juli 2021 zu sehen. museumimlagerhaus.ch

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