Lukas Bärfuss über den Sturm aufs Kapitol
Das falsche Staunen

Der Sturm auf das Kapitol hatte sich schon lange angekündigt – woher die Überraschung? Hören wir endlich auf, die Augen vor Tatsachen zu verschliessen, schreibt Lukas Bärfuss.
Publiziert: 10.01.2021 um 19:49 Uhr
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Aktualisiert: 16.04.2021 um 18:23 Uhr
Schockierende Bilder: Am Mittwoch, dem 6. Januar 2021, stürmte in Washington ein Mob das Kapitol. Dies verhinderte die Bestätigung der Präsidentschaftswahlen von vergangenem November.
Foto: AFP
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Lukas Bärfuss

Am Mittwoch, dem 6. Januar 2021, stürmte in Washington ein Mob das Kapitol, Sitz der amerikanischen Legislative, und verhinderte, dass der Kongress die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen vom vergangenen November bestätigen konnte.

Aufgehetzt wurden die Randalierer vom amerikanischen Präsidenten. Bei einer Rede, die er ein paar Stunden früher vor dem Weissen Haus und hinter Panzerglas gehalten hatte, gab er sich zuversichtlich, dass seine militanten Anhänger gleich im Anschluss zum Kapitol marschieren würden. Und nur durch Stärke, dies gab er ihnen mit auf den Weg, nur durch Stärke werde man das Land und die gestohlene Wahl zurückerobern können.

Die Jünger taten, was ihr Messias von ihnen erwartete. Sie stürmten und plünderten, sie randalierten und bedrohten eine demokratische Institution und die gewählten Volksvertreter. Auf Widerstand stiess das Pack dabei nicht. Die Beamten der United States Capitol Police waren von der Situation überrascht und überfordert.

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Woher die Überraschung?

Kommentatoren in aller Welt reagierten mit Entsetzen und mit Erstaunen. Wie war das möglich? Die USA, eine Wiege der Demokratie, Hort der Freiheit, in der Hand von Verrückten und bewaffneten Extremisten? Die wenigsten hatten mit dieser Eskalation gerechnet. Seltsam. Die Zeichen an der Wand waren deutlich zu lesen gewesen. Der 6. Januar 2021 war seit langem angekündigt. Schon im Oktober 2016, noch vor seiner Wahl zum Präsidenten, hatte sich Donald Trump zu seiner undemokratischen und autoritären Gesinnung bekannt. Bei einer Veranstaltung in Delaware versprach er seinen Anhängern damals zum ersten Mal, die Ergebnisse der Wahl nur zu akzeptieren, falls er selbst gewinnen werde. Die Jahre darauf standen genau unter dieser Prämisse. Lügen, Drohungen, Verleumdungen, Schmähungen – das war das giftige Gebräu, das dieser Mann über seine Propagandakanäle der Bevölkerung Tag und Nacht verabreichte.

Alle starrten in die Bildschirme, lasen die Nachrichten, als wären sie Gaffer einer angekündigten Katastrophe. Jeder weiss, dass Worte eines Tages zu Taten werden. Allen ist bekannt, wie Hass zu Gewalt führt. Niemand will die Verantwortung tragen. Aber die Katastrophe ist keine Strafe des Himmels. Sie wurde von Menschen gemacht.

Alle wissen es – niemand handelt

Der Mann im Weissen Haus hat die Wut geschürt und für seine Zwecke missbraucht – aber er hat sie nicht erfunden. Die Verzweiflung über die soziale Ungerechtigkeit war lange vor ihm da. Alle wissen, dass wir den Reichtum teilen müssen. Alle wissen, dass der sogenannte Trickle-Down-Effekt eine ideologische Finte war, um die Reichen noch reicher zu machen.

Alle wissen, dass die Einkommensungleichheit in den USA seit fünfzig Jahren wächst. Für das Jahr 1998 zeigen die Statistiken einen Kreuzungspunkt. Damals verdiente das reichste Prozent zum ersten Mal mehr als die ärmste Hälfte der Bevölkerung. Dieser Trend hält unvermindert an. Alle wissen es. Aber keine Regierung, egal von welcher politischen Seite, war willens oder fähig, etwas zu tun, um diese soziale Zeitbombe zu entschärfen.

Alle wissen, dass Lügen niemals wahr, aber irgendwann zu einer Tatsache werden. Jeder kennt das Gift der Desinformation. Und alle wissen, dass zu einer funktionierenden und freiheitlichen Demokratie freie und unabhängige Medien gehören. Das weiss man in den USA, und man weiss es auch bei uns in der Schweiz. Alle wissen, dass mit Journalismus noch niemals Geld verdient wurde. Man bezahlt ihn entweder mit Werbeeinnahmen oder durch Subventionen. Alle wissen das, es ist eine unbestrittene Tatsache, und trotzdem schauen hierzulande alle zu, wie gerade in diesen Monaten die öffentlich-rechtlichen Medien unverschuldet den finanziellen Hungertod sterben.

Auch in der Schweiz werden öffentlich-rechtliche Medien kaputt gespart

Seit 2008, seit mit dem ersten iPhone das Internet mobil wurde, ist medial kein Stein auf dem anderen geblieben. In den letzten vier Jahren hat die SRG hundert Millionen Schweizer Franken an kommerziellen Einnahmen verloren. Das Werbegeld wanderte zu den privaten Anbietern, es wanderte vor allem ins Ausland, zu Google, zu Twitter und zu Facebook. Die entsprechenden Kurven sind spiegelsymmetrisch, was dort verloren wurde, konnte hier als Gewinn verbucht werden.

Wer denkt darüber nach, wie in diesem chaotischen Umfeld die journalistische Qualität gesichert werden kann? Wie kann sich eine freiheitliche Demokratie gegen Demagogie und antidemokratische Propaganda wehren? Hat man vom entsprechenden Bundesamt, dem Uvek, etwas dazu gehört? Die sogenannte Massnahmen zur Medienförderung sind reine Spiegelfechterei. Sie verteilen nur die knappen Mittel um.

Das Parlament? Dort schmiedet man eifrig die letzten Sargnägel. So verlangten kurz vor Weihnachten fünfundzwanzig eidgenössische ParlamentarierInnen in einer Motion, man solle die SRG der Eidgenössischen Finanzaufsicht unterstellen. Die letzten Ressourcen fliessen ihrer Meinung nach besser in die Bürokratie, nicht in den Journalismus. Tragisch und beschämend: Die Motion ist parteiübergreifend. So haben eine Grüne aus Genf, eine Sozialdemokratin aus Zürich und eine rechtsnationale Bernerin die Forderung unterzeichnet. Fürchten die Politikerinnen und Politiker von rechts und links eine kritische Berichterstattung? Haben sie den Sinn und die Bedeutung des Gemeinwohls vergessen? Sie überlassen die vierte Gewalt im Staat ohne Not einigen wenigen privaten Unternehmen. Über die Berichterstattung bestimmt in Zukunft also Jack Dorsey. Der hat sich mit seinem Kurznachrichtendienst Twitter die destruktive, gewaltverherrlichende Propaganda von Donald Trump jahrelang gerne gefallen lassen. Hundert Millionen Abonnenten sind hundert Millionen Konsumenten und Werbekunden. Und es war Dorsey, der am Tag nach dem Sturm auf das Kapitol die wirksamste Massnahme gegen den Psychopathen an der Pennsylvania Avenue erliess, indem er ihm vorläufig den Twitter-Account sperrte. Spätestens jetzt wissen alle, wer die Macht hat.

Dorsey besitzt drei Milliarden Privatvermögen. Damit könnte man fünfeinhalbtausend Generaldirektoren der SRG entlöhnen.

Demagogie, Populismus, Hass und antidemokratische Propaganda wurden nicht mit den sozialen Medien geboren. Aber sie haben dort ein Zuhause gefunden.

Unsere Gesellschaft verdankt ihren Erfolg auch der Arbeitsteilung. In normalen Zeiten sollte der Bürger eines freiheitlichen Staates sich nicht um alles kümmern müssen. Er sollte seine Stimme delegieren und darauf zählen können, dass die Institutionen und die Gremien die notwendigen Reformen angehen.

Wir können nicht mehr warten

Aber leider leben wir nicht in normalen Zeiten. Die Institutionen sind selbst in einer tiefen Krise. Wir alle erleben eine Revolution, eine technologische, eine demografische und eine soziale. Es geht nicht nur um die Medienpolitik. Es geht zum Beispiel auch um die Umwelt und um den Klimawandel. Es ist bekannt, was auf uns zukommt. Alle wissen, dass wir endlich handeln müssen. Das ist auch eine der Lektionen des 6. Januar. Wir können nicht mehr warten, wir können unser eigenes Leben nicht mehr wie Zuschauer betrachten. Jeder sollte in seinem sozialen Umfeld, in seiner Firma, in seiner Universität, in seiner Redaktion politisch werden, für das Gemeinwohl, für das kritische Denken, für die Freiheit und für die Solidarität einstehen, beginnen, die Institutionen, die den Garant für eine Demokratie darstellen, von innen her mit Geist, Kritik und mit Leben zu füllen. Sonst wird er früher oder später mit offenem Mund vor den Trümmern seiner eigenen Kultur stehen, staunend, aber gewiss nicht unschuldig.


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