Milena Moser
Die Fastenzeit ist vorüber

Meine katholische Freundin hat sechs Geschwister und will keine Witze darüber hören – sie hat sie alle schon gehört. Dafür erzählt sie mir, wie sich ihr Glaube auf den Alltag auswirkt. Was die Fastenzeit bedeutet, zum Beispiel.
Publiziert: 04.04.2021 um 10:23 Uhr
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Aktualisiert: 16.04.2021 um 10:49 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: Milena Moser
Milena Moser

Aber dieses Jahr nicht. Dieses Jahr ist anders. «Ich hab auf rein gar nichts verzichtet», sagt sie trotzig und schaut mich herausfordernd an. Doch sie merkt schnell, dass ich nicht verstehe, worauf sie hinauswill. «Na, während der Fastenzeit!» Auch das hilft mir nicht sofort weiter, da ich mit dem Begriff eher einen Gesundheitstrend als ein religiöses Ritual verbinde.

Geduldig erklärt sie mir, dass sie normalerweise während der sechs Wochen vor Ostern auf etwas verzichtet, das ihr wichtig ist, vielleicht auch zu wichtig. Schokolade, Fernsehserien, Alkohol sind die naheliegenden Opfer. «Es geht darum, zu merken, was wirklich wichtig ist, was man braucht und was nicht», erklärt sie.

Und endlich verstehe ich, was sie meint: «Das haben uns die letzten dreizehn Monate schon zur Genüge gelehrt.»

«Genau.»

Einen Moment lang schweigen wir und denken an die Dinge, auf die wir seit Beginn der Pandemie verzichten mussten. Vom Banalen bis zum Existenziellen. Im Café sitzen und schreiben, meine Kinder umarmen. In manchen Punkten überschneidet sich unsere Erfahrung, in anderen nicht. So hat sie ihre Stelle gleich zu Beginn des Lockdowns verloren und hangelt sich jetzt mühsam von einem Gelegenheitsjob zum nächsten. Dafür sind ihre drei Kinder alle wieder zu Hause. Heimlich beneide ich sie darum, auch wenn ich weiss, dass es für diese jungen Erwachsenen nicht gerade ideal ist.

Meine Lesungen und Kurse und der Erscheinungstermin meines nächsten Buches mussten wieder und wieder verschoben werden, doch diese Kolumne lief von der Pandemie unberührt weiter, wofür ich, es sei hier in aller Deutlichkeit gesagt, unendlich dankbar bin.

Meine Freundin schüttelt so heftig den Kopf, dass ihre Haare fliegen. «Nein, dieses Jahr hab ich auf nichts verzichtet!»

«Oder auf zu vieles», murmle ich.

Und jetzt ist Ostern. Einer meiner liebsten Feiertage, weil er mit so wenig Erwartungen verbunden ist. Ausser der, alle versteckten Eier zu finden, bevor sie zu stinken beginnen. Ich liebe es, Eier zu bemalen, obwohl ich denkbar unbegabt dafür bin. Vor allem verglichen mit meinem Mann, dem Künstler! Deshalb kritzle ich nur kurze Gedichte auf die Schalen und verziere sie mit Symbolen, Herzchen und Peace-Zeichen. Und erinnere mich daran, dass mein jüngerer Sohn mich einmal vorsichtig darauf hinweisen musste, dass ich soeben vier vermeintliche Hippie-Ostereier mit dem Mercedes-Stern verziert hatte. Oh Lord, won’t you buy me ...!

Eine grosse Party wird es auch jetzt nicht geben. Wir feiern zu zweit, wie wir schon Geburtstage und unsere Hochzeit, Thanksgiving, Weihnachten und Neujahr gefeiert haben. Ach, was werden wir unsere Freunde vermissen, und unsere Familien sowieso. Aber wir werden darauf anstossen, dass wir nicht allein sind. Dass wir noch da sind. Dass wir einander noch mögen. Und darauf, dass wir endlich das sprichwörtliche Licht am Ende des Tunnels sehen können.

Das mag daran liegen, dass die Covid-Impfung nun auch in San Francisco allen Erwachsenen zur Verfügung steht. Oder einfach am Frühling. Wir sitzen auf der Terrasse und heben die Gläser. Hoffnung liegt in der Luft. Wir können sie förmlich riechen. Es hat aufgehört zu regnen. Die Sonne scheint, die Kirschbäume blühen und der kalifornische Mohn.

Die Fastenzeit ist vorüber.

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