Milena Moser
Hörst du mich?

Mehr als alles andere wollen wir gesehen, gehört, wahrgenommen werden. Als Kinder von unseren Eltern, von unseren Lehrern. Später von Gleichaltrigen, Freunden, Kollegen, Arbeitskollegen und Vorgesetzten. Und seit dem Aufkommen der sozialen Medien von der ganzen Welt.
Publiziert: 07.03.2021 um 11:10 Uhr
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Aktualisiert: 07.05.2021 um 16:12 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben und ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: Milena Moser
Milena Moser

Wie verletzend, geradezu vernichtend es ist, ignoriert zu werden, wurde mir vor ein paar Tagen wieder bewusst. Ich war auf der Post, um ein Paket abzuholen. Die Schlange war wie immer lang, das hat nicht nur mit der Pandemie zu tun, sondern vor allem mit den Personaleinsparungen, die der letzte Präsident veranlasst hat und die noch nicht wieder rückgängig gemacht worden sind. Eine einzige Schalterbeamtin versuchte, dem Ansturm gerecht zu werden; die Stimmung war etwas gereizt, aber noch nicht feindselig. Ich fragte mich, wie ich es geschafft hatte, den Briefträger zu verpassen, wenn ich doch kaum je das Haus verliess. Die Schlange bewegte sich in ordentlichen Zweimeterschritten vorwärts. Vor mir stand ein bulliger, grosser, junger Mann, der, während er wartete, diverse Formulare ausfüllte.

Dann kam eine Frau in meinem Alter herein, sie trug eine strahlend weisse Bluse und zwei Einkaufstaschen voller Pakete. Kurzentschlossen schritt sie an uns allen vorbei zum Anfang der Schlange. Ich dachte, ihre Pakete seien wohl vorfrankiert und sie wolle sie nur auf den Stapel legen, der sich im Verlauf einer Schicht auf der einen Seite des Schalters bildet. Aber nein, sie blieb einfach vor uns stehen, als sei dieser Platz für sie reserviert. Etwas Ähnliches hatte ich vor ein paar Tagen im Supermarkt beobachtet. Auch da war die Dränglerin ungefähr in meinem Alter, was mich irgendwie beschämte. «Ich steh nicht Schlange, aus Prinzip nicht!», hatte diese verkündet. Als sei das ihr gutes Recht.

«Entschuldigen Sie bitte.» Der junge Mann vor mir räusperte sich. «Ich möchte Sie nur darauf hinweisen, dass ich vor Ihnen dran bin. Vielleicht haben Sie mich nicht gesehen?»

Er war allerdings schwer zu übersehen. Trotzdem ignorierte die Frau ihn konsequent. Sie zückte ihr Handy und begann wahllos darauf einzutippen; es fehlte nur noch, dass sie vor sich hin pfiff. Der Mann räusperte sich wieder. «Entschuldigen Sie bitte, ich rede mit Ihnen. Können Sie mich hören?» Etwas lauter nun, aber immer noch ausgesucht höflich. Seine gewählte Ausdrucksweise, seine beinahe übertriebene Höflichkeit erinnerte mich an Victor, und an die Art, wie er vor einem Gang zum Strassenverkehrsamt sein Hemd bügelt. Der junge Mann war auch nicht weiss – im Gegensatz zu der Dränglerin. Im Gegensatz zur Frau im Supermarkt. Im Gegensatz zu mir.

Ich war erstaunt, wie sehr mir diese einseitige Auseinandersetzung zusetzte. Das verächtliche Schweigen der Frau in der weissen Bluse war aggressiver und verletzender, als wenn sie den jungen Mann verbal angegriffen hätte.

Ich mischte mich ein: «Entschuldigen Sie bitte, aber würden Sie mich auch so ignorieren?» Und zack, drehte sie sich um, musterte mich, ordnete mich ein: eine Frau wie sie, im mittleren Alter oder etwas darüber, wie sie. Und weiss. Wie sie.

«Ich hab ja gar nichts gesagt», fuhr sie mich an.

«Eben!» Meine Stimme zitterte, mein Herz raste, ich war alles andere als souverän. «Das ist es ja, Sie sagen nichts», japste ich. «Der Herr hier spricht mit Ihnen, aber Sie ignorieren ihn einfach, das ist doch …. unhöflich!»

Unhöflich. Etwas Vernichtenderes fiel mir nicht ein. Aber es reichte, um ihr einen Moment lang den Wind aus den Segeln zu nehmen. Und der junge Mann nutzte den Moment, um seine Formulare abzuschicken.

«Ich höre Sie», murmelte ich in die Richtung seines Rückens. Aber ich glaube, er hörte mich nicht.


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