Milena Moser
Muttertag

Seit mehr als einem Jahr drehen sich meine romantischen Fantasien um eines: die Ankunftshalle im Flughafen von Zürich. Rosa Bodennebel, anschwellende Geigenklänge und: meine Söhne. Jetzt hat sich dieser Wunsch erfüllt.
Publiziert: 10.05.2021 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 08.05.2021 um 17:31 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: Milena Moser
Milena Moser

Als ich vor unterdessen fast sechs Jahren erneut die Schweiz verliess, um noch einmal ganz von vorn anzufangen, hörte ich alle möglichen Kommentare. «Was bist du mutig!», «Das könnte ich nie!» und vor allem: «Ich würde meine Kinder zu sehr vermissen.»

Mutig zu sein, das habe ich lange von mir gewiesen. Doch die letzten Jahre haben mich eines Besseren belehrt. Dass ich meine Söhne – überhaupt meine Familie, meine Freundinnen und Freunde, aber vor allem meine Söhne – vermissen würde, darauf war ich gefasst gewesen. Das war nur kein Grund, es nicht zu tun. Was für eine Belastung wäre das gewesen! «Mama setzt ihre Träume nicht um, weil sie euch regelmässig sehen will. Also bleibt bitte schön in der Nähe und kommt jeden Sonntag zum Essen vorbei ...» Worauf ich nicht gefasst war: auf das körperliche Empfinden dieses Vermissens, dieses Ziehen und Reissen, diese Enge in der Brust, genau, wie es in Kitschromanen beschworen wird. Ein Gefühl, das weder Liebeskummer noch Fernbeziehung je auch nur annähernd hervorgerufen haben.

Aber es ging. Zweimal im Jahr reiste ich für mehrere Wochen in die Schweiz, zwischendurch besuchten sie mich auch mal, erst in Santa Fe im Wilden Westen, dann wieder in San Francisco. Beides wunderschöne Städte, beliebte Reiseziele, wenn auch ziemlich weit weg. Die Zeit, die wir zusammen verbrachten, war zwar kürzer, aber auch inniger und intensiver. Und ich spürte, dass die Entschlossenheit, mit der ich mein Glück suchte und auf meinen Träumen bestand, nicht das schlechteste Beispiel für sie war. Wenn die alte Mutter so was noch hinkriegt, dann traut man sich selbst wohl auch ein bisschen mehr zu. «Du hast mir gezeigt, dass man keine Angst haben muss.» Doch das stimmt nicht ganz. Mut ist nicht, keine Angst zu haben. Mut ist allenfalls, die Angst an der Hand zu nehmen und mit ihr zusammen ins Ungewisse zu springen.

Das Ungewisse ist nämlich nicht das Problem. Das Problem ist die Realität, die man nicht vorhersehen kann. Denn dann kam nicht nur die Pandemie, sondern auch das komplette Einwanderungsverbot, das selbst legale Anträge wie meinen auf Eis legte. Ich hätte Amerika vielleicht zwischen zwei Viruswellen verlassen können, wäre dann aber nicht wieder zurückgekommen. Nie habe ich die Zerrissenheit stärker gespürt als im letzten Jahr. Vor allem im Sommer, als meine Mutter und Victor gleichzeitig im Spital lagen, sie in Zürich und er in San Francisco. Meine Mutter ist letzten Herbst gestorben, ohne dass ich sie noch einmal sehen konnte. Und ich erinnere mich an ihre düsteren Vorhersagen vor meiner Abreise. «Du weisst nie, was passiert», hatte sie mich gewarnt. «Es könnte jederzeit ein Krieg ausbrechen. Die Grenzen könnten geschlossen werden. Du kannst nicht davon ausgehen, dass alles so bleibt, wie es ist. Oder wie es dir in den Kram passt.»

Ich weiss noch, wie ich damals genervt die Augen verdrehte. Immer dieser Pessimismus! Grenzen schliessen, wo gibts denn so was! Nein, ich war nicht mutig, mir fehlte schlicht Lebenserfahrung. Oder das Vorstellungsvermögen. Hätte ich diesen Schritt gewagt, wenn ich gewusst hätte, was auf mich zukommen würde? Ich weiss es nicht. Ich weiss nur, dass ich ihn trotz allem nie bereut habe.

Was ich im letzten Jahr gelernt habe: Ich halte mehr aus, als ich mir vorstellen kann. Und: Ich will mir gar nicht alles vorstellen können. Das Ungewisse ist mein Freund.

Das gilt übrigens auch umgekehrt: Das lang ersehnte Wiedersehen mit meinen Söhnen war dann noch viel schöner als in meinen Fantasien …

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