Milena Moser
Plan B minus

Vor fast vierzig Jahren habe ich meine Lehre als Buchhändlerin abgeschlossen. Damals wurde mir ein eidgenössisches Fähigkeitszeugnis ausgehändigt, das mir ehrlich gesagt noch nichts genützt hat. Bis es mir letzte Woche unverhofft ein Stellenangebot einbrachte.
Publiziert: 13.02.2023 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 11.02.2023 um 13:20 Uhr
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Milena MoserSchriftstellerin

Die Buchhandlung habe ich nur betreten, weil – ach, seien wir ehrlich: Weil ich an keiner Buchhandlung vorübergehen kann. Ein älterer Mann kommt zwischen den Regalen hervor. «Ich bin der ursprüngliche Besitzer», sagt er. «Heute gehört die Buchhandlung der ganzen Gemeinde.» Der ganzen Gemeinde? Das interessiert mich.

«Vor zehn Jahren wollte ich das Geschäft verkaufen. Ich arbeitete siebzig Stunden die Woche, meine Frau machte sich Sorgen.» Ich nicke und erinnere mich an die Kommentare damals: «So schön möchte ich es auch mal haben, du kannst den ganzen Tag lesen.» Ha! Und nochmals ha! Joel und ich wissen es besser.

«Es fand sich aber kein Käufer, ich dachte schon, ich müsse schliessen. Doch dann trudelten die Schecks ein. Das ganze Dorf beteiligte sich, mit kleineren und grösseren Beiträgen. Sie alle wollten unbedingt eine Buchhandlung!» Er wischt sich über die Augen, und auch ich bin gerührt. Heute gehört die Buchhandlung der Gemeinde, eine Gruppe von lokalen Geschäftsleuten bezahlt die Rechnungen, Freiwillige teilen sich die Arbeit.

Die Schriftstellerin Milena Moser (59) schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Mehr als ein Leben».
Foto: Barak Shrama Photography

Und Joel arbeitet zur Freude seiner Frau nur noch ab und zu.

Wir unterhalten uns über die Schwierigkeiten, eine unabhängige Buchhandlung zu führen und – vor allem – zu erhalten, und er erzählt mir stolz, dass er ja immerhin einen entsprechenden Lehrgang am Community College abgeschlossen habe. «Wie lange dauerte der denn?», frage ich. Und als er stolz «eine ganze Woche!» antwortet, kann ich es mir nicht verkneifen, mit meinem eidgenössischen Fähigkeitsdiplom anzugeben. «Sogar die verkürzte Lehre hat zwei Jahre gedauert», erkläre ich. Ein ungewohnter Nationalstolz erfüllt mich, als ich Joel das Prinzip der Berufslehre erkläre. Während man sich hier auf Jahrzehnte hinaus verschuldet, weil ohne Collegeabschluss nichts geht, kann man in der Schweiz schon während der Ausbildung Geld verdienen. Ich kenne ausserdem einige ausgewanderte Schweizer Handwerker hier, die sehr gut verdienen, einfach, weil sie wissen, was sie tun. Weil sie solide Arbeit liefern. Maler, Schreiner, Maurer, diese Berufsbezeichnungen sind hier nicht geschützt. Und das merkt man. Europäisches Können wird geschätzt und auch entsprechend bezahlt.

Joel ist beeindruckt. «Ich sag dir was, zieh hierher, und du hast einen Job», sagt er. Ich springe vor Aufregung fast in die Luft. Na endlich, denke ich. Endlich zahlt es sich aus, dass ich damals auf die Vernunft und meine Eltern gehört habe! Die (typisch schweizerische) Vorsichtsmassnahme, erst mal einen anständigen Beruf zu lernen, auf den ich allenfalls zurückgreifen könnte, falls «das mit dem Schreiben» nicht klappen sollte, wurde allerdings von der Zeit, von meinem Alter komplett entwertet. Dass ich gelernt habe, wie man Bücher von Hand auszeichnet und von Kunden verlangte Titel in den ellenlangen Zettelkästchen der Zentralbibliothek ausfindig macht, ist heute nichts mehr wert.

Ausser hier, in diesem kleinen, malerischen Kaff hoch oben an der wilden kalifornischen Nordküste.

Ich gebe mich der Fantasie hin, sehe mich morgens die Buchhandlung aufschliessen, die Bücher einräumen, die Kunden beraten ... Kein schlechter Plan B!

Nur – «Würdest du mich denn bezahlen?», frage ich Joel.

«Bezahlen? Natürlich nicht!»

Mein nächster Halt ist der Schnapsladen. Nicht, weil ich mich betrinken müsste: Ich kaufe einen Lottoschein.

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