Milena Moser
Wie alt sind wir wirklich?

Man ist so alt, wie man sich fühlt, heisst es. Doch das hat mir nie ganz eingeleuchtet. Welche Gefühle sind welchem Alter zuzuordnen? Und was ist überhaupt altersgerechtes Verhalten?
Publiziert: 28.02.2022 um 08:58 Uhr
Milena Moser

An der Strassenkreuzung nimmt sie unaufgefordert meine Hand. «Pass auf, Caroline, pass auf!», redet sie sich leise zu. Auf dem Spielplatz angekommen, bleibt sie erst einmal stehen und schaut sich um. Es ist ein sonniger Samstagnachmittag, es ist voll. Eine Basketballmannschaft feiert ihren Sieg mit Pizza, die kleinen Spieler toben sich auf den Geräten aus, Eltern stehen in Gruppen beieinander und reden. Caroline schaut sich alles aus sicherer Entfernung an, dann streckt sie den Arm aus und zeigt auf das Klettergerüst. Ich folge ihr. Geschickt hangelt sie sich einmal hin und zurück, dann sucht sie wieder meinen Blick und zeigt auf die Rutschbahn. So bewegen wir uns langsam durch die ganze Anlage. Ernsthaft, als würde sie die Geräte einer Inspektion unterziehen, probiert sie jedes einzelne aus. Sie lacht, als ich sie auf der Schaukel anschiebe, und einmal wirft sie eine Handvoll Sand in die Luft. Allerdings mit einem eher nachdenklichen Blick, als führte sie ein Experiment durch.

«Wie alt ist sie denn?», werde ich gefühlte hundert Mal gefragt. Die Wahrheit ist, ich weiss es nicht. «Zwölf», möchte ich sagen, aber sicherheitshalber bleibe ich bei dreieinhalb. Und plötzlich erinnere ich mich an meinen älteren Sohn, der einmal sagte: «Ich bin ein 45-Jähriger im Körper eines 15-Jährigen.» Wie alt ist die Person, die in Carolines kleinem Körper lebt? Zwölf oder 42 oder 72? Was heisst es, 3 Jahre alt zu sein oder 12 oder 15 oder 45? Wenn man so alt ist, wie man sich fühlt, dann bewege ich mich an jedem beliebigen Tag zwischen 17 und 107. Wobei ich 17 mit übermütig und verliebt assoziiere und 107 weniger mit weise als mit knochentief erschöpft. Dabei könnte es gerade so gut umgekehrt sein. 17-Jährige haben oft allen Grund zur Erschöpfung, und man hört auch immer wieder von Paaren, die sich im hohen Alter noch verlieben. Vielleicht fühle ich mich also jeden Tag genau so alt wie ich bin, 58 nämlich. Vielleicht gehört alles, was zwischen übermütig und erschöpft liegt, dazu.

«Du warst wohl auch schon lange nicht mehr auf dem Spielplatz», spricht mich eine bildschöne Frau an. In ihrem bodenlangen, traditionellen mexikanischen Kleid, den lila und blau gefärbten Haaren und dem Bühnen-Make-up fällt sie selbst hier auf, in dieser bunten Menschenmasse. Ich starre sie an wie einen Filmstar.

Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Kürzlich erschien ihr neues Buch «Mehr als ein Leben».

«Ja, ähm ... seit etwa zwanzig Jahren nicht mehr», stammle ich. «Ich hüte die Kleine nur.»

Da ich umständehalber meist zu Hause und auch recht flexibel bin, biete ich befreundeten oder benachbarten Müttern an, in unvorhergesehen Betreuungsengpässen einzuspringen. Ich kann mich nur zu gut an solche Notfälle erinnern. Und ja, selbstverständlich würde ich dasselbe auch Vätern anbieten, sollten sie je solche Probleme ansprechen. Was bisher einfach noch nie vorgekommen ist – aber das will ich jetzt gar nicht weiter interpretieren.

«Ich auch!» Die glamouröse Frau zeigt auf zwei kleine Jungen, die in waghalsiger Höhe die Strickleiterpyramide hochhangeln. «Mein jüngster Sohn und mein ältester Enkel», erklärt sie. «Ja, ich hab noch mal von vorn angefangen. Wie blöd kann man sein?» Sie lacht aus vollem Hals, so blöd scheint ihre Entscheidung nicht. Ich frage nicht, welcher Junge welcher ist. Oder wie alt sie sind oder wie alt sie ist. Sie ist eine Erscheinung: Alles ist jederzeit möglich, verkündet sie.

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