Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
«Arschloch», «Trottel» und «Idiot»

Schimpfen, ursprünglich eine scherzhafte Äusserung, wird immer aggressiver – einerseits, weil wir den Witz durch kulturelle Unterschiede nicht mehr verstehen, andererseits, weil wir uns in Zeiten der Pandemie abreagieren wollen.
Publiziert: 08.03.2022 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 05.03.2022 um 12:32 Uhr
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Was haben wir in den letzten zwei Jahren gezetert: Corona-Leugner scholten Regierungen, Politiker schmähten Wissenschaftler und Maskenträger schimpften auf «Covidioten». «Das Schimpfwort ‹Covidioten› hat eine breite Bedeutung und bezeichnet nicht nur Menschen, die bewusst die Existenz der Krankheit Covid-19 leugnen», schreibt die Germanistin Oksana Havryliv (50) in ihrem eben erschienenen Buch über Schimpfwörter, «sondern auch Personen, die Hamsterkäufe tätigen.»

Havryliv ist Kennerin von Kraftausdrücken – und das kam so: Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs reist die gebürtige Ukrainerin 1994 für ein Austauschprogramm nach Wien. Eben mit dem Studium fertig, sucht sie nach einem Thema für ihre Doktorarbeit – wenig erforscht und lebendig soll es sein. Wein bechernd beim Heurigen sagen ihr Kolleginnen, sie solle Schimpfwörter untersuchen – die entsprächen ihren Kriterien. Und so promoviert Havryliv 2001 zum Thema «verbale Aggression» am Beispiel des Wienerischen und ist heute Spezialistin für Schimpfwörter.

«Schleich di, du Oaschloch!» Dieser Ausruf eines Wieners zum Amokläufer vom 2. November 2020 machte Schlagzeilen und ging als Hashtag um die Welt. Gemäss Havryliv ist «Arschloch» neben «Trottel» und «Idiot» das häufigste Schimpfwort im deutschsprachigen Raum, denn wir gehören zu den Shit-Kulturen (wie auch das Französische) und benutzen gerne Wörter aus dem fäkal-analen Bereich, in katholischen Gebieten auch aus dem blasphemischen Bereich, was Sacrum-Kulturen auszeichnet (Italienisch, Spanisch).

Beim Schimpfen geht es überwiegend um das Abreagieren von (negativen) Emotionen.

Tabubruch ist immer das Ziel des Schimpfens. Daraus folgert Havryliv: «Allein die Enttabuisierung führt zu einer Verringerung des Gebrauchs von Schimpfwörtern.» Da in unterschiedlichen Kulturen andere Tabus bestehen, könne man ein Schimpfwort nicht einfach übersetzen. So müsse man ein «motherfucker» aus dem Englischen, das wie das Russische und Serbische zu den Sex-Kulturen gehöre, im Deutschen fäkal-anal als «Scheisskerl» wiedergeben.

Warum schimpfen wir eigentlich? Auch das untersuchte Havryliv: In zwei Dritteln bis drei Vierteln der Fälle geht es ums Abreagieren, in einem Viertel steht der scherzhafte Gebrauch im Vordergrund, und nur jeder zehnte Fall beabsichtigt die Beleidigung des Beschimpften. Während die Funktion des Abreagierens zwischen 2006 und 2016 um zehn Prozent zunahm, nahm die des scherzhaften Gebrauchs um zehn Prozent ab. Dabei leitet sich «schimpfen» vom Althochdeutschen «skimphen» ab, was im 9. Jahrhundert «scherzen» meinte.

Die Multikulturalität nennen Befragte gegenüber Havryliv als Grund, weshalb sie den scherzhaften Gebrauch von Schimpfwörtern einschränken: Sie wüssten nicht, wie Personen aus anderen Kulturkreisen auf eine witzige verbale Aggression reagieren – sie könnte physische Folgen haben. So könnte ein «Trottel» – unter Kollegen eine leichte Provokation oder gar Liebkosung – gegenüber einem fremden Menschen schnell in eine Schlägerei ausarten.

Oksana Havryliv, «Schimpfen zwischen Scherz und Schmerz», Picus

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