Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Die Neutralität verhinderte einen Schweizer Bürgerkrieg

Nicht die Angst vor der Einmischung in fremde Händel, sondern die Furcht vor einem eidgenössischen Bürgerkrieg liess die Schweiz vor 400 Jahren neutral werden.
Publiziert: 02.05.2023 um 08:54 Uhr
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Aktualisiert: 02.05.2023 um 14:25 Uhr
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Neutral, das klingt irgendwie frisch, modern, noch nie dagewesen – neu eben. Das kommt daher, weil wir das Wort in deutscher Sprache neu-tral aussprechen. Aber eigentlich hat es nichts mit neu zu tun, denn es kommt vom Lateinischen «neutralis», wo das «ne» eine Verneinung ist und ursprünglich «keiner von beiden» meint, also weder weiblich noch männlich, sondern sächlich. Die Schweiz ist also das, was alt Bundesrat Ueli Maurer (72) nicht in der Landesregierung haben wollte: ein Es.

Natürlich hat «neutral» auf staatspolitischer Ebene noch eine weiterführende Bedeutung: «Nicht beteiligt, keine der beiden streitenden Parteien unterstützend.» Und da hat unser Land eine lange Tradition: «Die Schweiz und ihre Neutralität – eine 400-jährige Geschichte» heisst das im April erschienene Buch des Schweizer Historikers Marco Jorio (71). Er war jahrelang Chefredaktor des Historischen Lexikons der Schweiz (HLS), CVP-Mitglied und sitzt aktuell für die Grünliberalen im Grossen Gemeinderat von Worb BE.

400 Jahre Neutralität? Viele denken an die Schulzeit zurück, wo die Schlacht von Marignano (I) 1515 den Beginn markierte, und rechnen nach. Doch Jorio weist in seinem fundiert recherchierten und glänzend geschriebenen Werk nach, dass die Schweiz bis ins 17. Jahrhundert keine Neutralität wahrte. Das sah die Geschichtsschreibung über Jahrhunderte gleich. Erst 1915, beim runden Jahrestag der Schlacht von Marignano, änderte sich diese Ansicht und wurde in der Folge zur Schulweisheit.

Wie neutral kann die Schweiz angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine sein?
Foto: EPA

«Erst wenige Autoren legen den Beginn der Neutralität in die Zeit des Dreissigjährigen Kriegs», schreibt Jorio, der sich zu diesen Historikern zählt. Damals in den Jahren 1618 bis 1648 herrschte in Europa ein Religionskrieg zwischen Katholiken und Protestanten, bei dem es weniger um Gott als um Macht ging. Die evangelische Union versuchte bereits vor dem Krieg die reformierten Schweizer Städte Basel, Bern, Genf und Zürich für ihre Sache zu gewinnen – ohne Erfolg. Der Grund war die Angst vor einem eidgenössischen Bürgerkrieg.

Die Städte hielten sich zurück, weil «dadurch dann den anderen unsern Eidgenossen auch Ursach gegeben wirt, stil ze sitzen und sich neutral ze halten». Wenn die reformierten Orte nicht zur Waffe greifen, dann werfen sich auch die katholischen Luzern oder Freiburg nicht ins Schlachtgetümmel. Jorio: «Die Eidgenossenschaft war mit Ausnahme einiger ‹Kollateralschäden› unversehrt durch die turbulente Zeit des Dreissigjährigen Kriegs gekommen.»

Konfessionskonflikte, kriegerische Nachbarländer: «Für die Schweiz (…) sind die Voraussetzungen weggefallen, die seit dem 17. Jahrhundert die Basis der Neutralität bildeten», so Jorio. Gleichzeitig sei sie in der Mentalität und im Herzen des Schweizer Volks heute noch tief verankert. Deshalb gehe es nicht um die Abschaffung dieses Status, sondern um eine Neuausrichtung. Jorio schreibt: «Steht einmal fest, ob ein Staat Aggressor oder Opfer ist, dann soll auch die neutrale Schweiz dem Opfer (…) helfen.»

zVg
Marco Jorio

«Die Schweiz und ihre Neutralität – eine 400-jährige Geschichte», Hier und jetzt

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«Die Schweiz und ihre Neutralität – eine 400-jährige Geschichte», Hier und jetzt

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