Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Nur wen die Wirtschaft zulässt, dem schenkt sie ein

«Gespräch mit dem Steuerbeamten über Poesie» heisst ein Gedicht des Autors Wladimir Majakowski von 1926. Dieses Sachbuch belegt, dass es manchmal erhellend ist, was Menschen über ihnen fachfremde Themen zu sagen haben.
Publiziert: 07.06.2022 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 04.06.2022 um 15:47 Uhr
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Wieso sollte ich mir vom Zahnarzt die richtige Pflege der Balkonpflanzen erklären lassen? Und warum müsste ich die Schreinerin fragen, wenn ich die richtige Zubereitung einer Sauce hollandaise wissen will? Nun gut, Ersterer könnte einen grünen Daumen haben und Letztere eine Hobbyköchin sein. Aber im Normalfall würde ich diesen Berufsleuten Garten- oder Küchenarbeit nicht als Kernkompetenz zuschreiben.

Ähnlich verhält es sich bei Thomas Piketty (51), der kürzlich ein Buch über Rassismus veröffentlicht hat. Der französische Wirtschaftswissenschaftler hat sich einen Weltruf mit Bestsellern wie «Das Kapital im 21. Jahrhundert» (2014) oder «Kapital und Ideologie» (2020) verschafft. Darin erweist sich Piketty als brillanter Analytiker ökonomischer Verhältnisse in der gegenwärtigen Gesellschaft. Aber Rassismus? Fehlanzeige.

Doch in seinem neuen Buch zeigt Piketty: Rassismus ist eine Grundlage der «Ökonomie der Ungleichheit» (um den Titel seines Bestsellers von 2016 zu zitieren). Der aktuelle Rassismus manifestiert sich für Piketty in der «Identitätshysterie und Herkunftsbesessenheit» der Menschen. «Aber sie spüren, dass die derzeitige Identitätsbesessenheit nichts Gutes verheisst und zur Lösung keines einzigen der sozialen oder wirtschaftlichen Probleme beiträgt», so der Wirtschaftsprofessor.

Ökonom Thomas Piketty: Was weiss dieser weisse Mann über Rassismus?
Foto: Keystone

«Sagen wir es deutlich», schreibt Piketty: «Die verschiedenen Spielarten der identitären Abschottung, die seit einigen Jahrzehnten in vielen Teilen der Welt um sich greift, sind zu einem grossen Teil die Folge eines Verzichts auf jeden Anspruch einer egalitär und universalistisch angelegten Veränderung des Wirtschaftssystems.» Und dieser Verzicht auf weltweite Gleichheit habe zur Verschärfung des Wettbewerbs innerhalb der gesellschaftlichen Klassen beigetragen.

Der Ökonom präsentiert konkrete Zahlen: 2021 verschicken Forscher für eine französische Studie 9600 Bewerbungen auf 2400 Stellenangebote und variierten dabei die Namen nach dem Zufallsprinzip. «Der Befund lautet, dass Bewerber mit maghrebinisch klingenden Namen und Vornamen eine um 30 bis 40 Prozent geringere Chance als solche mit französischen Vornamen haben, von Personalverantwortlichen kontaktiert zu werden», so Piketty.

Um für wirkliche Rechts- und Chancengleichheit ungeachtet jeder Herkunft einzutreten, müsse man zunächst die soziale Gleichheit im Allgemeinen stärken, schreibt Piketty – ob es um Zugang zu Bildung und Gesundheit, zu Wohnraum und öffentlichen Diensten, um Verringerung von Einkommens- und Vermögensunterschieden oder um die Ausweitung der verschiedenen Formen der Teilhabe am bürgerlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben gehe.

Thomas Piketty, «Rassismus messen, Diskriminierung bekämpfen», C. H. Beck

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