Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Verdient ein Angestellter zurecht 400-mal weniger als ein CEO?

«Kapitalismus hält sich nicht etwa trotz des Mangels der vielen, sondern durch diesen Mangel», schrieb einst Bertolt Brecht. Und der Kapitalismus hält sich durch eine mangelhafte Sprache, wie dieses Buch zeigt.
Publiziert: 09.04.2024 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 06.04.2024 um 14:44 Uhr
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Die Maturareise meiner Klasse am Wirtschaftsgymnasium ging Mitte der 1980er-Jahre nach Berlin. Die deutsche Stadt war damals noch durch eine Mauer in einen West- und Ostteil getrennt. Wir machten auch einen Abstecher in die DDR – eine eindrückliche und bedrückende Erfahrung. In Erinnerung sind mir noch die Sprüche auf den Hausfassaden, die in Grossbuchstaben und mit Ausrufezeichen wie geschrien schienen: «JE STÄRKER DER SOZIALISMUS – DESTO SICHERER DER FRIEDEN!» Die Sprache des Kommunismus.

Auch der Kapitalismus hat seine Sprache – vielleicht subtiler und weniger plakativ. «Als Sprache des Kapitalismus bezeichnen wir bestimmte Sprachbilder und Metaphern, Redewendungen und Phrasen, Mythen und Erzählungen sowie einzelne Begriffe, mit denen ökonomische Zusammenhänge beschrieben und erzählt werden», schreiben der deutsche Literatur- und Kulturwissenschaftler Simon Sahner (35) und der deutsche Ökonom und Essayist Daniel Stähr (34) in ihrem eben erschienenen Buch.

Ein besonders wirkungsmächtiger Mythos sei der von der Tellerwäscherkarriere: Jemand, der besonders viel leiste, bringe es zu Reichtum. «Es spricht nichts gegen harte Arbeit», schreiben die Autoren. «Es spricht aber etwas dagegen, zu behaupten, Reichtum sei allein das Ergebnis von Leistung und Genialität.» Wenn dem so wäre, dann müssten viel mehr Menschen reich sein. «Oder sollen wir wirklich glauben, dass durchschnittliche Angestellte 400-mal weniger leisten als die CEOs eines Unternehmens?», fragen sie rhetorisch.

«Perfect Storm» – als wäre es ein Naturereignis: die Finanzkrise 2008 mit der Schliessung der Bank Lehman Brothers.
Foto: Getty Images News/Getty Images

Um solche Ungleichgewichte zu verschleiern, verwende man moralische Begriffe wie «verdienen» oder «Verdienst». «Mit diesen Formulierungen wollen wir ausdrücken, dass wir die Leistung einer Person anerkennen und in dem Ergebnis der Leistung das sehen, was der Person zusteht», schreiben Sahner und Stähr. Sprache, die nicht hinterfragt, analysiert und verändert werde, stabilisiere ein System, das oft wenigen Menschen sehr viele Vorteile und vielen Menschen noch mehr Nachteile bringe.

Und wenn die Wirtschaft grad nicht so gut läuft, dann hat niemand Schuld, und man spricht von «Tsunami» oder dem «Perfect Storm» wie bei der Finanzkrise 2008 – als wären es unbeeinflussbare Wetterereignisse. Vergleichbar sei das bei «steigenden Preisen»: «Es entsteht der Eindruck, Preiserhöhungen seien katastrophale Naturphänomene.» Aber Preise steigen nicht einfach, es sei immer jemand da, der die Preise erhöhe, so Sahner und Stähr. Doch wer will schon hinstehen und sagen, dass er die Preise erhöht?

«Wir wollen mit diesem Buch vermitteln, was die Sprache des Kapitalismus ist, wie sie sich in unserem Alltag zeigt und wie sie Erzählungen prägt», schreiben die Autoren. Am Ende trage die Sprache stets dazu bei, den Kapitalismus als alternativlos erscheinen zu lassen; und sie verberge diejenigen, die von diesem System profitieren. Sahner und Stähr fordern deshalb Wissenschaft, Politik und Medien dazu auf, wirtschaftliche Zusammenhänge nicht mit Phrasen zu umschreiben, sondern beim Namen zu nennen.

Simon Sahner/Daniel Stähr

«Die Sprache des Kapitalismus», S. Fischer.

«Die Sprache des Kapitalismus», S. Fischer.

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