Kommentar zur Strafminderung wegen medialer Vorverurteilung
Nur die Journalisten sind böser als Pierin Vincenz

Die Richter haben Pierin Vincenz neun Monate Gefängnis erlassen, weil er in den Medien vorverurteilt worden sei. SonntagsBlick-Wirtschafsredaktor findet die richterliche Kritik an den Medien fragwürdig – zumal die Affäre von einem Journalisten ins Rollen gebracht wurde.
Publiziert: 17.04.2022 um 09:44 Uhr
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Aktualisiert: 22.04.2022 um 11:53 Uhr
Pierin Vincenz verlässt nach Tag acht das Zürcher Volkshaus.
Foto: Philippe Rossier
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Thomas Schlittler

Die meisten Prozessbeobachter haben das Zürcher Volkshaus bereits verlassen, als Pierin Vincenz aus dem Saal schreitet. Einer der wenigen, die noch auf ihrem Platz sitzen, ist Wirtschaftsjournalist Lukas Hässig. Der Mann, der mit seinen Artikeln die Affäre im Alleingang ins Rollen gebracht hat, wirkt nachdenklich, als er Vincenz’ Abgang verfolgt.

Vor sechs Jahren, am 7. April 2016, berichtete Hässig auf «Inside Paradeplatz» das erste Mal über eine «brisante Zahlung» von 2,9 Millionen Franken, die Vincenz von seinem Geschäftspartner Beat Stocker erhalten hatte. Vincenz, damals angesehener Wirtschaftskapitän, versuchte mit allen Mitteln, eine Berichterstattung zu verhindern. «Jegliche Publikation wird juristische Konsequenzen haben», drohte er per SMS. Hässig liess sich nicht einschüchtern. In den Wochen und Monaten darauf publizierte er unzählige Artikel zu Vincenz’ fragwürdigen Deals. Nun hatten die Publikationen tatsächlich juristische Konsequenzen – allerdings für Vincenz selbst. Das Bezirksgericht Zürich verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten.

Hässigs Husarenstück zum Trotz: Am Berufsstand der Journalisten liess Richter Sebastian Aeppli bei der Urteilsverkündung kein gutes Haar. Im Stile eines Oberlehrers kritisierte er die «massive Vorverurteilung» in den Medien und reduzierte Vincenz’ Strafmass deshalb um satte neun Monate. Es wirkte, als seien die Medien für Richter Aeppli die einzigen, die noch böser waren als Pierin Vincenz. Was an der medialen Berichterstattung nicht in Ordnung war, erörterte Aeppli nicht im Detail. Er erwähnte einzig einen Kommentar, der das Gericht im Vorfeld des Prozesses zu einem Schuldspruch aufgefordert hatte.

Solche Forderungen an die Adresse der Justiz sind fragwürdig. Die Tatsache, dass über Vincenz’ Machenschaften in den vergangenen Jahren ausführlich berichtet wurde, ist jedoch absolut in Ordnung. Selbst Spesenexzesse im Stripclub dürfen kein Tabu sein, wenn sie Teil der Anklage sind. Zumal die meisten Medien nur berichtet haben, was gemäss Anklageschrift passiert ist – und nicht, wie das Gericht dies juristisch zu werten habe. Müssten die Medien immer erst abwarten, ob ein Gericht einen Sachverhalt als illegal bewertet, so würde eine kritische (Wirtschafts-)Berichterstattung verunmöglicht. So wusste am 7. April 2016 nicht einmal Lukas Hässig, ob Vincenz tatsächlich etwas Illegales getan hatte. Aber ohne seinen Mut, über die möglichen Missstände zu berichten, wäre Richter Aeppli gar nie dazu gekommen, diese als illegal zu taxieren.

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