Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Die Schweiz muss Putin zum Terroristen erklären

Mit der Mobilisierung hat Putin den Krieg endgültig nach Russland geholt, jetzt muss er seine Untertanen bei Laune halten. Zum Beispiel mit Drohnenterror gegen die Zivilbevölkerung in der Ukraine.
Publiziert: 23.10.2022 um 01:33 Uhr
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Aktualisiert: 21.11.2022 um 13:30 Uhr
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Gieri CaveltyKolumnist SonntagsBlick

Viktoria arbeitete als Sommelière in einer Weinhandlung. Sie erwartete ihr erstes Kind. Im Dezember sollte es zur Welt kommen. Am Montagmorgen, kurz nach 7 Uhr, krachte eine russische Drohne in ihre Altbauwohnung mitten in Kiew. Viktoria wurde von den Trümmern erschlagen. Mit ihr starben ihr Ehemann Bogdan, eine Frau im Rentenalter und ein weiterer Nachbar.

Gleichentags jubelte Putins Lieblingszeitung «Komsomolskaja Prawda» über Russlands «neue Wunderwaffe», die Kamikaze-Drohne Geran 2. «Mit dem Kreischen eines Mopeds und dem Wackeln einer beschwipsten Kurtisane fliegt sie dahin. Schwärme dieser kleinen, aber beeindruckenden Flugzeuge stürzen sich auf ukrainische Hauptquartiere, Munitionsdepots und sogar Panzer. Sie sprengen Elektrizitätswerke und Öldepots in die Luft.» Oder eben Wohnhäuser.

Kamikaze-Drohnen sind eine so primitive wie perfide Erfindung. Mit minimalem finanziellen Aufwand erzielen sie eine maximal demoralisierende Wirkung. Weil der Tod plötzlich aus heiterhellem Himmel heranschwirrt, verbreitet dieses Kriegsgerät eine ganz eigene Form von Angst und Schrecken. Sergei Surowikin, der neue Kommandant der russischen Streitkräfte in der Ukraine, setzt bewusst auf diesen Effekt, wenn er sagt: «Wir zermürben den Feind methodisch.»

Gieri Cavelty, Chefredaktor SonntagsBlick.
Foto: Thomas Meier

Für Wladimir Putin bedeutet der Krieg eine Chronik des Scheiterns. Erst wollte er Kiew im Handstreich nehmen, dann den Südosten der Ukraine. Zuletzt offenbarte die Mobilmachung die desolate Verfassung der russischen Verwaltung: Kranke wurden aufgeboten, Senioren, Minderjährige – vor allem gab und gibt es für unzählige Soldaten keine Ausrüstung. Nun weiss sich der Moskauer Diktator nicht mehr anders zu helfen, als die Zivilbevölkerung in der Ukraine mit Drohnen zu terrorisieren.

Dabei hegt man in Russland allem Anschein nach nicht einmal die Hoffnung, dass sich dadurch das Kriegsglück wendet. Die «Komsomolskaja Prawda» jedenfalls schreibt: «Russland muss sich beeilen, ‹Geranien› einzusetzen, bevor der Westen die Ukraine mit seinem Luftverteidigungssystem überzieht.» Der Drohnenterror der letzten Tage erscheint damit in erster Linie als eine Showeinlage fürs heimische Publikum. Mit der Mobilisierung hat Putin den Krieg endgültig nach Russland geholt, jetzt muss er seine Untertanen bei Laune halten.

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Mit anderen Worten: Der Terror wird um des Terrors willen veranstaltet. Das macht alles noch erbärmlicher, als es ohnehin ist.

Die Schweiz nimmt im Ukraine-Krieg eine zwielichtige Haltung ein. Im Grunde tut sie so, als ob es diesen Krieg nicht gäbe. Unser Land liefert nicht nur keine Waffen, Helme und Schutzwesten in die Ukraine – der Bundesrat lehnte es kürzlich sogar ab, dass andere Staaten, die im Besitz von Rüstungsgütern aus hiesiger Produktion sind, dieses Material an die Ukraine weitergeben können. Gewissermassen als Kompensation für diese unterlassene Hilfe inszeniert sich die Eidgenossenschaft als eine Art Schutzpatronin des zivilen Lebens. Der Bund unterstützt verschiedene Infrastrukturprojekte in der Ukraine; Ignazio Cassis richtete ausserdem im Juni eine Konferenz für den Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg aus.

Mit seinem Besuch diese Woche in Kiew wollte unser Bundespräsident zeigen, dass es der Schweiz durchaus ernst ist mit dieser humanitären Sonderrolle. Er sei «entsetzt über den Angriffskrieg gegen die zivile Infrastruktur», schrieb Cassis auf Twitter. Dass er dafür von rechts heftig angegangen, seine Visite als Neutralitätsbruch bezeichnet wird, war zu erwarten – das macht diese Kritik jedoch nicht weniger absurd.

Angesichts der Grausamkeit des russischen Vorgehens sind Cassis’ Worte allerdings ausgesprochen zurückhaltend. Da hat Bern in einer vergleichbaren Situation auch schon schärfer Stellung bezogen. Als Serbien im August 1991 in Kroatien einfiel, liess die Landesregierung verlauten: «Der Bundesrat stellt an die Adresse der serbischen Verantwortlichen mit aller Deutlichkeit fest, dass die Schweiz eine solche Veränderung von Grenzen mit roher Gewalt niemals akzeptieren wird und dass sich Serbien so ausserhalb unserer zivilisierten Gesellschaft begibt.»

Cassis’ Reise nach Kiew war mutig und wichtig. Als Schutzpatronin des zivilen Lebens sollte sich die Schweiz heute aber mindestens so klar ausdrücken wie vor 31 Jahren. Beispielsweise, indem sie Putin zum Terroristen und seine Regierung zur illegalen Terrororganisation erklärt.

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