10 Klima-Aktivisten berichten, warum sie das Bundeshaus belagern – und sicher nicht freiwillig abziehen
Manche gaben sogar ihren Job auf für die Bewegung

Von Montag mit Mittwochmorgen haben Aktivisten den Bundesplatz in Bern besetzt. BLICK zeigt, wie das Protestcamp funktioniert hat.
Publiziert: 23.09.2020 um 01:05 Uhr
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Aktualisiert: 03.03.2021 um 22:42 Uhr
Fabienne Kinzelmann

Sie singen, sie tanzen, sie haben Spass. Wäre ihr Anliegen nicht ernst und die Bundesplatz-Besetzung nicht illegal, ginge das Klimastreik-Protestcamp problemlos als Hippie-Festival durch. Seit Montag campieren Klimaaktivisten aus der ganzen Schweiz vor dem Bundeshaus – und liefern sich ein Katz-und-Maus-Spiel mit den Behörden. Dabei wirkt das Ganze ausserordentlich gut organisiert – also: Wie funktioniert das Klima-Camp?

Die Vollzeit-Aktivisten
Jan Kessler (24) und Michelle Reichelt (27)

Die beiden Vollzeit-Aktivisten Jan Kessler und Michelle Reichelt streamen das Geschehen auf dem Bundesplatz live ins Internet. Für sie geht Klimaschutz über alles. Beide konzentrieren sich ganz auf den Aktivismus. Reichelt hat darum sogar ihren Job gekündigt – sie ist eigentlich Lehrerin. «Aber das finde ich nicht mehr sinnvoll», sagt sie. Kritik von den Marktstandbetreibern sieht sie gelassen. «Ich glaube schon, dass unser Protest hier etwas bringt.»

Der Rechtsprofi
Mattia De Lucia (19), Klimastreiker

Was ist, wenn ich verhaftet werde? Muss ich in eine Einzelzelle? Und bekomme ich einen Eintrag ins Strafregister? Mit solchen Fragen bestürmen vor allem jüngere Protestierende Mattia De Lucia. Er ist zwar erst 19, aber beim Klimastreik ein alter Hase. Und perfekt vorbereitet. «Nein, du musst nicht in U-Haft», beruhigt er etwa einen besorgten Lehramtsstudenten. Als das Martinshorn ertönt und alle den Räumungseinsatz vermuten, bewahrt er einen kühlen Kopf: «Chillets, Leute. Das ist nur die Ambulanz.»

Anja Gada (18) und Annik Färber (19) vom Klimastreik haben extra dafür trainiert, sich wegtragen zu lassen.
Foto: Fabienne Kinzelmann
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Der Solidaritäts-Protestler
Lorenz Keysser (24), ETH-Student aus Zürich

«Als ich gehört habe, dass das Camp am Mittag geräumt werden soll, bin ich sofort losgefahren. Es ist wichtig, dass jetzt mehr hier sind – auch wenn das bedeutet, dass meine Kommilitonin unseren Vortrag in der Uni heute alleine halten muss. Eine Räumung wäre undemokratisch, weil junge Menschen kein Mitbestimmungsrecht haben und politische Handlungsspielräume durch Wirtschaftsinteressen eingeschränkt sind.»

Die Angeketteten
Anja Gada (18) und Annik Färber (19), Klimastreikerinnen

Die Freundinnen Anja Gade und Annik Färber sind müde, aber guter Dinge. «Ich bin schon nervös. Schliesslich geht es darum, dass wir von der Polizei weggetragen werden», sagt Gada. «Wir haben aber seit Samstag trainiert, wie wir deeskalieren.» Färber ergänzt: «Zum Beispiel versuchen wir, keine unkontrollierten Bewegungen zu machen, damit es nicht als Gewalt gegen die Polizei interpretiert wird.» Gada hofft, dass die Sicherheitskräfte spätestens am Mittwochmorgen eingreifen. «Wir nehmen uns den Platz hier, solange es geht. Wenn wir bis Ende der Woche bleiben können, haben wir unser Ziel verfehlt. Es geht uns nicht darum, hierzubleiben – sonst hätten wir unser Camp direkt an einem legalen Ort aufgeschlagen.»

Die XR-Oma
Collette Bugnon (55), XR-Aktivistin, Freiburg

«Ich bin hier altersmässig die Oma», sagt Collette Bugnon, Aktivistin bei Extinction Rebellion (XR), lachend. Gerade hat sie das blutrote Kostüm von ihrer «Red Rebels»-Performance ausgezogen, nur die Schminke deutet noch auf das seltsame Schauspiel hin, das sich einige Minuten zuvor in der Bundesgasse abgespielt hat: Eine Gruppe verkleideter Aktivisten «trauerte» dabei stumm und zuweilen gruselig um die zerstörte Natur und die sterbende Tierwelt.

Die Peacekeeperin
Lehrerin aus der Westschweiz

Auf ihrem Rücken steht «Crime Scene» («Tatort»), ein Schild am Arm weist sie als «Peacekeeperin» aus: Wer ist die Frau, die sich so entschlossen über den Platz bewegt? «Ich achte darauf, dass die Leute so ruhig wie möglich bleiben», erklärt die XR-Aktivistin ihre Aufgabe. «Es geht uns ja um gewaltfreien Protest.» Auch aufgebrachten Passanten höre sie zu, sagt die Lehrerin aus der Westschweiz, die ihren Namen nicht verraten will. «Ich versuche zu verstehen, mit welchem Argument ich sie erreichen kann.»

Die Köchin
Alex (37), Naturpädagogin aus Zürich

«Ich bin um 4.30 Uhr aufgestanden, und mein Tag geht sicher noch bis nach Mitternacht. Meine Hauptaufgabe hier ist, dass die Leute Essen kriegen. Heute war ich ‹Chopping Queen› und musste schauen, dass alles geschnippelt wird. Es gab für 350 Menschen Reis mit Gemüse, vegane Burger, Würste und Falafel. Ich gehöre zum Koch-Kollektiv, wir versorgen Protestcamps mit einer mobilen Küche. Bei uns gibt es keine Hierarchien. Ob wir auch für die Corona-Skeptiker kochen würden? Das würden wir zumindest kollektiv besprechen.»

Die Seelsorgerin
Felice (27), Medizinstudentin aus Bern

«Es ist mega wichtig, dass es den Leuten hier gut geht. Darum arbeiten wir als Care Team mit 20 Personen in Schichten. Wer überfordert ist, unsicher wegen einer Aktion ist oder einfach Redebedarf hat, kann zu uns ans Zelt kommen oder uns einfach ansprechen. Wir hören zu und kümmern uns. Mir hilft dabei auch die Erfahrung aus dem Studium. Bisher geht es den meisten zwar gut, aber das kann sich ja schnell ändern. Falls es zu Verhaftungen kommt, sind wir da, fangen die Leute auf, wenn sie entlassen werden. Dafür sind wir auch in Kontakt mit Psychologen und Psychiatern.»

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