Die Sust ist am Anschlag – jetzt schreitet der Bundesrat ein
Nur vier Prozent der Flugvorfälle werden rechtzeitig aufgeklärt

Die Schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle (Sust) ist chronisch überlastet – sie klärt nur noch einen Bruchteil gefährlicher Vorfälle und Unfälle fristgerecht auf. Die Untersuchungen dauern oft doppelt so lange wie vorgesehen. Über 80 sind aktuell offen.
Publiziert: 28.04.2024 um 00:04 Uhr
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Aktualisiert: 30.04.2024 um 10:34 Uhr
Die Sust muss Aviatik-Unfälle schnell aufklären, ist aber zunehmend überlastet.
Foto: Kapo SZ
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Vanessa MistricRedaktorin

Die vielen Flugvorfälle halten die Behörden in Atem: Einem Easyjet-Flieger mit 193 Personen an Bord geht Mitte November 2023 auf dem Flug der Treibstoff aus, er kann gerade noch in Zürich landen. Die verbleibende Treibstoffmenge liegt bereits «unterhalb des absoluten Minimums an Reservekraftstoff», wie die Sicherheitsuntersuchungsstelle Sust in ihrem Vorbericht feststellt.

Mitte Februar kracht in Anniviers VS ein Helikopter in eine Hochspannungsleitung und stürzt ab, der Pilot wird verletzt. Und in Grenchen SO stürzt ein Flugzeug der Fallschirmschule Skydive Grenchen ab. Der Pilot stirbt, die elf Passagiere können mit einem Fallschirm landen.

Nur vier Prozent fristgerecht aufgeklärt

Bei der Aufklärung solch gefährlicher Situationen und Unfälle kommt die Sust kaum mehr hinterher. Blick-Recherchen zeigen: In den letzten beiden Jahren hat sie gerade einmal vier Prozent ihrer Untersuchungen zu schweren Vorfällen und Unfällen im Flugverkehr fristgerecht abgeschlossen.

Dabei ist die Untersuchungsstelle bei solchen Vorfällen dazu verpflichtet, rasch abzuklären, ob Sicherheitsprobleme bestehen und Massnahmen nötig sind, um ähnliche Fälle zu vermeiden: Der Gesetzgeber schreibt eine Frist von 12 bis 18 Monaten vor, je nach Gewicht der Flugzeuge.

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Die Sust muss schnell sein, denn häufig zeigen sich bei der detaillierten Aufarbeitung gefährliche Sicherheitslücken. Im Oktober 2019 flog beispielsweise beim Flughafen Zürich ein Helikopter um ein Haar in einen British-Airways-Flieger mit 153 Passagieren – die Flugzeuge trennten rund 130 Meter.

Immer mehr Beinahe-Crashs

Dank der Befunde aus Sust-Untersuchungen in mehreren solchen Fällen müssen die Piloten nun in der Nähe einiger Flugplätze bestimmte Geräte mitnehmen, damit sie für die Fluglotsen auf dem Radar erkennbar sind, und das Bundesamt für zivile Luftfahrt (Bazl) organisierte Schulungen.

Die Sust räumt die Probleme ein. Der Zielwert für den fristgerechten Abschluss der Aviatik-Untersuchungen sei «deutlich unterschritten», sagt Stephan Eder, Leiter des Untersuchungsdiensts der Sust. Man sei dabei, ältere, pendente Untersuchungen abzuschliessen, gleichzeitig kämen immer mehr neue Fälle dazu.

Gemäss der Untersuchungsstelle nehmen die gefährlichen Situationen in der Luft dramatisch zu: Letztes Jahr wurden über 1800 Vorfälle gemeldet, 2015 waren es erst 1260. Involviert seien kleinere Segelflieger oder Helikopter, aber auch grössere Businessflieger und Airlines.

Vor allem in der Nähe von Flugplätzen kommt es zunehmend zu Beinahe-Crashs, weil sich Segelflieger oder Helikopter nicht an die Regeln halten. Laut Eder braucht es mehrere Monate, um allein alle Aufzeichnungen der vielen technischen Geräte an Bord auszuwerten – für die eigentliche Untersuchung bleibt oft sehr wenig Zeit.

Sust soll mehr Personal bekommen

Auch Personen, die an den Unfällen beteiligt waren, decken die Untersuchungsstelle offenbar mit Arbeit ein. Es würden vermehrt Anwälte eingeschaltet, die umfangreiche Auskünfte verlangten, heisst es bei der Sust. Das verursache einen erheblichen Mehraufwand.

Die Folge: Die Arbeit stapelt sich. Über 80 Aviatik-Untersuchungen sind aktuell offen. Daneben wirke die Sust bei ähnlich viele Untersuchungen ausländischer Behörden mit.

Die Geschäftsprüfungskommission des Nationalrats kritisierte vergangenen November, die vielen hängigen Untersuchungen seien «unbefriedigend», und forderte mehr Personal für die Sust. Die Kommission brauche dringend ausreichend Ressourcen, um ihre Aufgaben fristgerecht zu erledigen. Es sei «besonders wichtig», dass die Schweiz über eine funktionsfähige Unfalluntersuchungsstelle verfüge.

Krise dauert noch Jahre

Diesen Februar nahm Viola Amherd im Namen des Gesamtbundesrats Stellung zu den Forderungen. Der Bundesrat räumte Handlungsbedarf ein. Er will die Kommission der Sust, also deren Leitorgan, vergrössern. Aktuell besteht die Kommission aus dem ehemaligen Vizedirektor des Bundesamtes für Verkehr, Pieter Zeilstra, dem ehemaligen Swiss-Piloten Roland Steiner und Rechtsanwältin Inge Waeber. Im «ersten Halbjahr 2024» sollen zwei weitere Kommissionsmitglieder dazustossen. Das Verkehrsdepartement (Uvek) evaluiere zurzeit mögliche Kandidaturen.

Auch der Untersuchungsdienst der Sust, der die Fälle aufklären soll, könnte künftig weitere Mitarbeitende erhalten. Doch damit will der Bundesrat noch zuwarten, bis die neu aufgestellte Kommission eine Beurteilung vorlegt.

Der Leiter des Untersuchungsdiensts Stephan Eder hat wenig Hoffnung, dass sich die Lage bald entspannt: «Die Situation wird noch zwei bis drei Jahre andauern.» Um Mitarbeitende zu entlasten und mit den Untersuchungen schneller vorwärtszukommen, setzt die Sust nach eigenen Aussagen seit einiger Zeit vermehrt auf weniger detaillierte Untersuchungen. Und auch bei ausführlichen Untersuchungen würde nach dem Prinzip «needed vs. nice to know» gearbeitet: Nur das Nötigste wird untersucht.

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