Gisela Föllmi (57) wurde als Kind sexuell missbraucht
0:55
«Müssen besser hinschauen»:Gisela Föllmi (57) wurde als Kind sexuell missbraucht

Gisela Föllmi wurde in ihrer Kindheit jahrelang sexuell missbraucht – jetzt bricht sie ihr Schweigen
«Redet darüber. Nur so wird sich etwas ändern»

Gisela Föllmi (57) hat in ihrer Kindheit schwersten Missbrauch erlebt. Das Unsagbare hat sie nun in Worte gefasst. Und sich damit zurück ins Leben gekämpft.
Publiziert: 03.10.2021 um 06:00 Uhr
|
Aktualisiert: 04.10.2021 um 14:58 Uhr
Aline Wüst

Es war Viehschau als wir Gisela Föllmi trafen. Geschmückte Kühe zogen durch die Strassen. Das Bimmeln der Kuhglocken unterbricht das Gespräch. Gisela Föllmi lässt sich davon nicht beirren. Sie ist hier, um das Schweigen zu brechen. Spricht über das, was sich so gar nicht herzeigen lässt. Ihr ist das egal. «Fertig Geheimnis.» Alles hat sie aufgeschrieben. Und zwar detailliert. Es ist unerträglich.

Gisela Föllmis Vater kam aus einer begüterten Industriellenfamilie. Der Mutter war es wichtig, zu den «Besseren» zu gehören. Gisela war noch ein Baby, als sich die Eltern trennten. Sie wuchs nun mit Mutter und Stiefvater in einem gehobenen Zürcher Aussenquartier auf. Der Stiefvater ist EDV-Spezialist, einmal klemmt sie ihm aus Versehen die Finger in der Autotür ein. Er klemmt ihr die Fingerchen ebenfalls ein, als Strafe. Sie ist sieben Jahre alt, als sie geheissen wird, ihr blaues Lieblingskleid anzuziehen.

Der Stiefvater bringt sie zu einem seiner Angestellten. Der missbraucht sie in der Badewanne. Der Stiefvater ist nebenan. Er muss dem Angestellten nun weniger Lohn bezahlen. Die kleine Gisela versteht nicht, was passiert. Versteht nicht, was das für Flüssigkeit ist, die ihr ins Gesicht spritzt. Immer und immer wieder wird das Mädchen missbraucht. Vom Angestellten des Stiefvater, von anderen Männern. Wenn sie sich dabei erbrechen muss, werden die Männer noch gewalttätiger. Sie wird vergewaltigt dafür, dass sie Ekel empfindet, wenn sie missbraucht wird.

Gisela Föllmi (57) hat ein Buch über den Missbrauch in ihrer Kindheit geschrieben.
Foto: Thomas Meier
1/6

Der Schlimme-Dinge-Schrank

Gisela Föllmis Seele wurde durch den Missbrauch in verschiedene Teile aufgesplittert. Zu ihrem Schutz. Da ist die erwachsene Gisela, die kleine Gisela, die anderen Teile nennt sie beispielsweise das innere Auskunftsbüro, Sekretärin oder Lokführer. Vom Missbrauch wusste die erwachsene Gisela lange gar nichts. Sie erinnerte sich einzig an die Gewalt und die Kälte in ihrem Zuhause. Die Erinnerungen an den Missbrauch waren weggesperrt – in den «Schlimme-Dinge-Schrank».

Gisela Föllmi machte eine Lehre als Offsetdruckerin, musste diesen Beruf dann wegen Rückenschmerzen aufgeben; acht Jahre leitete sie die Vormundschaftsbehörde von Reichenburg SZ. Gisela Föllmi kocht gern – und sehr gut, wie ihr Mann versichert. Schon als Kind rettete sie Regenwürmer, die sich auf den Asphalt verirrt hatten. Und tut es noch immer. Aber Körper und Seele rebellierten die ganze Zeit: Da waren Gerüche, die sie wahrnahm, die niemand sonst wahrnimmt. Gefühlsausbrüche, die der Situation nicht angemessen sind. Da waren auch zwei Suizidversuche. 57 Jahre alt ist Gisela Föllmi heute, und sie hat jede Nacht Albträume. Das ist das, was sexueller Missbrauch anrichtet.

Opfer werden vergessen

Gisela Föllmi sagt: «Alle Welt stellt Täter an den Pranger. Was mit den Opfern passiert, darüber redet niemand. Die sind vergessen. Sie fragt sich: Wie fühlt es sich an, fröhlich zu sein?

Nun sitzt sie hier, in der Hand das Buch, sagt: «Ich freue mich mega.» Obwohl die kleine Gisela in ihr drin um sich schlage, ihr das Leben schwer mache, ihr sage: «Du spinnst, du weisst, dass es lebensgefährlich ist, darüber zu sprechen.»

Einmal nahm sie als Mädchen allen Mut zusammen und vertraute sich der geliebten Grossmutter an. Der Stiefvater erfuhr davon und würgte sie fast zu Tode. Gisela Föllmi hat noch keine Möglichkeit gefunden, die Todesangst der kleinen Gisela zu lindern. Es sei ein innerer Kampf. Sie tue es für die kleine Gisela. Aber genauso für alle anderen Kinder.

«Und ich möchte andere Opfer ermutigen hinzuschauen. Das Geheimnis zu erzählen. Mit jemandem zu reden.» Niemand könne so was mit sich allein ausmachen. «Daran geht man kaputt.» Sie könne heute sagen: «Ja, ich bin ein Opfer von massivem Missbrauch. Aber das macht mich nicht aus. Ich bin noch so vieles anderes.» Und sie sagt auch: Aus reinem Existieren sei zuerst ein Dasein geworden, und aus dem Dasein heraus komme nun manchmal das Gefühl: Ich möchte noch weitere zwanzig Jahre leben. Heute beim Gespräch sagt sie: «Ich habe ein gutes Leben.»

Netz von Mitwissern

Es war ein schmerzhafter Weg dahin. Gisela Föllmi fand eine Therapeutin, zu der sie Vertrauen fasste. Erst sprach sie nur über die Gewalt des Stiefvaters und die Gefühlskälte der Mutter. 2011 wurde es ihr vereinzelt möglich sich vereinzelt an die sexuelle Gewalt zu erinnern und Texte darüber zu verfassen. Erst vergangenes Jahr sprengte sie den Bunker rund um ihre Seele. Gisela Föllmi erlebte nun das, was als Kind geschah, noch einmal, als ob es gerade erst passieren würde. Der Missbrauch durch fremde Männer, durch den Stiefvater und durch ihre Mutter, den Tag, als sie sich als Kind das Leben nehmen wollte. Immer wenn eine Erinnerung kam, setzte sie sich hin und schrieb sie nieder. Zum Beispiel das:

«Eine Woche ist vergangen. Ein Faustschlag in den Magen. Herr Fuchs lacht: «Stell dich nicht so an.» Überall Hände. Viele Hände. Grosse, gierige Hände. Zungen. Das Zimmer ist kahl. Nur ein Bett und eine sehr helle Lampe. In der Ecke steht Herr Fuchs. Sein Gesicht verschwindet hinter der Filmkamera. (…)»

Es ist unerträglich. Und zwar dass es Menschen gibt, die einem Kind so was antun. Dass es wie im Fall von Gisela Föllmi neben den Tätern auch ein ganzes Netz von Mitwissern gibt. Dazu gehören auch Ärzte. Die eine Abtreibung vornahmen bei einer 13-Jährigen und sie im Jahr darauf sterilisieren liessen.

Kinder können sich nicht wehren

2020 wurden in der Schweiz 1257 sexuelle Straftaten gegenüber Kindern erfasst. Gisela Föllmi fordert die Gesellschaft auf: «Redet darüber. Nur so wird sich etwas ändern.» Sie sagt: «Das Kind kann sich nicht wehren. Keine Chance.» Ein Kind habe keinen Vergleich. Es wisse nicht, dass es nicht normal ist, wenn einem der Vater die Finger extra in der Autotüre einklemme. Das Kind denkt: Das ist normal, ich war böse, das ist die Strafe. Vielleicht komme irgendwann der Vergleich mit anderen Familien hinzu, dann komme die Scham: Mit mir stimmt etwas nicht, sonst würden meine Eltern das nicht tun. Eltern, hält Föllmi fest, stehen immer auf einem Podest. Egal, was sie machen.

Werden die Kinder grösser, kommen die Redeverbote hinzu. «Die sind immer mit Drohungen verbunden.» Solche Kinder würden auch nichts sagen, wenn man sie fragte. Dafür brauche es Menschen im Umfeld, die reagierten, wenn sie ein «komisches» Bauchgefühl hätten, und Fachleute, die Missbrauch erkennen könnten. Nochmals sagt Gisela Föllmi: «Die Kinder können sich nicht wehren.»

Sie stehe nicht gern in der Öffentlichkeit, sagt Gisela Föllmi. «Aber wenn es das braucht, damit ein Kind geschützt wird, ist mir egal, was jemand sagt.» Für dieses eine Kind gehe sie überallhin und rede über das, was ihr passiert sei.

Und in diesem Moment wird klar: Aus dem hilflosen Mädchen ist eine Frau mit einer starken Stimme geworden. Eine Frau, die mit aller Entschlossenheit ihre Stimme einsetzen will, um Kinder zu schützen – und die mit grosser Stärke um ihr eigenes Glück kämpft.

Auf der letzten Seite im Buch schreibt sie, was die Zukunft bringt: «Ich werde vom geschändeten Kind zur selbstbestimmten, unbeschwerten, fröhlichen und glücklichen Frau.»

Gisela Föllmi: Das Schweigen brechen. Wörterseh.


Fehler gefunden? Jetzt melden