Der angeklagte Kosovare im Kantonsgericht St. Gallen (Zeichnung)
Foto: Keystone

Wieso Publikum im Gerichtssaal wichtig ist
Auf dem Rückweg zur Geheimjustiz

Seit ein paar Jahren schliessen Gerichte bei Verhandlungen immer öfter die Öffentlichkeit aus. Das hat Konsequenzen, schreibt Anwalt Matthias Schwaibold. Die Empörung über «Kuscheljustiz» beruhe unter anderem auf mangelndem Verständnis für die Arbeit der Justiz.
Publiziert: 24.04.2021 um 15:22 Uhr
Anwalt Matthias Schwaibold kritisiert, dass immer mehr Gerichtsverhandlungen ohne Publikum stattfinden.
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Matthias Schwaibold

Als Jeanne d’Arc am 30. Mai 1431 in Rouen (F) auf dem Marktplatz verbrannt wurde, war das der letzte Akt des Strafprozesses gegen sie. Wenn in den Jahrhunderten vor oder nach ihrem Tod irgendwelche Diebe, Hochverräter oder Ehebrecher gehenkt oder sonst wie ins Jenseits befördert wurden, auch. Alles, was davor war, fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Deshalb war die Herstellung von Öffentlichkeit zur Kontrolle des Gerichtswesens ein wichtiges Anliegen der Aufklärung und Kennzeichen der europäischen Reformbewegungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Während 100 bis 150 Jahren, zwischen etwa 1850 und 2000, war die Gerichtsöffentlichkeit gerade im Strafrecht ziemlich unangefochten. So lautet Art. 69 Abs. 1 der schweizerischen Strafprozessordnung: «Die Verhandlungen vor dem erstinstanzlichen Gericht und dem Berufungsgericht sowie die mündliche Eröffnung von Urteilen und Beschlüssen dieser Gerichte sind mit Ausnahme der Beratung öffentlich.» Und Abs. 4 ergänzt: «Öffentliche Verhandlungen sind allgemein zugänglich, für Personen unter 16 Jahren jedoch nur mit Bewilligung der Verfahrensleitung.» Wie so oft trügt der Schein, dass damit alles klar sei. Denn seit ein paar Jahren ist eine heftige Gegenbewegung im Gang.

Kinderschutz als Scheinargument

Ziemlich regelmässig schliessen nämlich die Gerichte das Publikum und oft auch die Gerichtsberichterstatter aus, wenn es um Gewalt- oder Sexualdelikte geht. Zugegeben: Auch dafür bietet die Strafprozessordnung seit 2011 eine Grundlage. Was allerdings als Ausnahme formuliert ist, scheint zur Regel zu werden: Das Deliktsopfer soll vor der Öffentlichkeit geschützt werden, weshalb man sie ausschliesst. Dafür kann man Verständnis haben, wenn das Opfer selbst im Gerichtssaal erscheint und befragt wird. Es ist nachvollziehbar, dass die vergewaltigte Frau nicht vor einem zahlreichen Publikum die Einzelheiten ihrer Beziehung zum Täter oder des Tathergangs ausbreiten will. Aber dieser Opferschutz treibt auch seltsame Blüten: Wenn der Mann seine Frau umbringt, dann sind die (gemeinsamen) Kinder im Sinn der Strafprozessordnung «Opfer» eines Delikts. Diese Kinder, vertreten durch eigene und meist vom Staat bezahlte Anwälte, verlangen dann zum Schutz ihrer Persönlichkeit den Ausschluss der Öffentlichkeit im Prozess gegen den Vater – auch wenn sie im Saal gar nicht erscheinen, weil sie längst ausführlich befragt wurden, sofern sie überhaupt etwas zur Tat haben sagen können. Damit erweist sich der Kinderschutz als Scheinargument.

Wenn aus der Ausnahme die Regel wird, stimmt etwas nicht. Dann hebelt man die Gerichtsöffentlichkeit aus, die in erster Linie der Kontrolle der Justiz und dem Schutz des Angeklagten dient. Allerdings schützt inzwischen auch das Bezirksgericht Winterthur ZH die Täter und verbietet nähere Angaben über sie – und schliesst die Öffentlichkeit aus. Wird bei schweren Delikten, insbesondere Sexual- und Tötungsdelikten, die Öffentlichkeit aber zunehmend ausgeschlossen, gerät die Justizkontrolle durch die Öffentlichkeit zur Farce. Wer ausgeschlossen ist, kann nicht verstehen, warum mancher Mörder freigesprochen wird oder Raser oder Vergewaltiger mit nur milden Strafen davonkommen. Man muss selbst erleben können, wie die Verteidigung die Anklage auseinandernimmt oder mit Erfolg geltend machen kann, dass das Opfer nicht ganz unschuldig am tragischen Ausgang eines Streits um Geld oder Drogen oder die Kinder war. Die Empörung über die «Kuscheljustiz» beruht, so meine ich, auf mangelndem Verständnis und fehlender Kenntnis dessen, was im Gerichtssaal vorgeht und was zählt.

Staatsanwälte führen veritable Geheimverfahren

Seit jeher nicht öffentlich ist die Strafuntersuchung: Was Polizei und Staatsanwälte machen, findet hinter verschlossenen Türen statt. Bis und mit dem Strafbefehl – also jenem «Ersatzurteil», mit dem heute wohl über 90 Prozent aller Strafverfahren abgeschlossen werden. Ihre Erledigung fällt in die Kompetenz der Staatsanwälte, wenn die Strafe relativ gering bleibt (Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten). Ans Gericht gelangt also nur noch ein kleiner Teil aller Straffälle, vor allem die «schweren» Delikte. Umso wichtiger wäre es, wenn die Öffentlichkeit wirklich nur in Ausnahmefällen eingeschränkt wäre. Zum zunehmenden Ausschluss des Publikums bei Gericht gesellt sich eine zunehmende Neigung von Staatsanwaltschaften, ihre ohnehin nicht öffentlichen Verfahren auch noch zu veritablen Geheimverfahren zu machen. Es wird Zeugen, Beschuldigten und Anwälten verboten, über das Verfahren zu reden. So hat die Staatsanwaltschaft Zürich im Verfahren gegen den früheren Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz allen einen Maulkorb verpasst, und deshalb weiss man noch immer nicht genau, was jetzt eigentlich wem der zahlreichen Beschuldigten vorgeworfen wird.

Es ist aber nicht einzusehen, warum es einem Angeklagten verboten sein soll, über das, was ihm vorgeworfen wird, in der Öffentlichkeit zu reden, wenn er das will. Und Ähnliches scheint sich ein Berner Staatsanwalt gedacht zu haben: Er verbot auch allen, die in einem Umweltschutz-Fall eine Rolle spielen, über die Sache zu reden. Zwar ist das Verbot bis Ende Jahr befristet, aber das schliesst eine Verlängerung nicht aus. Und warum sollen Geschädigte darüber schweigen müssen, wenn sie die Vertuschung oder Verschleppung eines Umweltskandals kritisieren wollen? Die Unschuldsvermutung schützt Beschuldigte, aber nicht die Amtsführung von Staatsanwälten. Je ungenierter Ausnahmebestimmungen in Regelfällen eingesetzt werden, desto schneller kehrt sich ein Grundsatz in sein Gegenteil. Der direkte und indirekte Ausschluss der Öffentlichkeit ist nämlich die Rückkehr zur Geheimjustiz. Auf diesem Weg haben wir in letzter Zeit bedauerliche Fortschritte gemacht.

Der Medienrechtler

Matthias Schwaibold (65) ist Partner bei der Zürcher Kanzlei Rutschmann Schwaibold Partner. Als Lehrbeauftragter für Informations- und Medienrecht doziert er an der Universität St. Gallen. Schwaibold vertritt auch den Medienkonzern Ringier, der diese Zeitung herausgibt, vor Gericht.

Matthias Schwaibold (65) ist Partner bei der Zürcher Kanzlei Rutschmann Schwaibold Partner. Als Lehrbeauftragter für Informations- und Medienrecht doziert er an der Universität St. Gallen. Schwaibold vertritt auch den Medienkonzern Ringier, der diese Zeitung herausgibt, vor Gericht.

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