Star-Autorin Sibylle Berg zum Corona-Jahr
«Die Situation ist relativ verzweifelt»

Die deutsche Star-Autorin Sibylle Berg verrät, wie sie das Krisenjahr erlebt hat, was der Kulturverzicht mit uns als Gesellschaft macht und warum sie gerne Wissenschaftlerin geworden wäre.
Publiziert: 20.12.2020 um 13:10 Uhr
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Aktualisiert: 30.04.2021 um 15:54 Uhr
Interview: Patricia Broder

Sie ist eine der erfolgreichsten Autorinnen unseres Landes und kennt sich mit Katastrophen und dunklen Szenarien aus wie kaum eine andere: Die Rede ist von Sibylle Berg (58). Die Werke der preisgekrönten Schriftstellerin zeigen oft eine düstere und trostlose Welt, weshalb deutsche Medien sie auch gerne als Hohepriesterin des Zynismus feiern. Wie blickt sie als Expertin auf das Krisenjahr zurück? Wir sprechen mit der Wahlzürcherin.

Frau Berg, wie haben Sie das Corona-Krisenjahr in der Schweiz erlebt?
Sibylle Berg: Bis zum Herbstbeginn hatte ich ein gutes, sicheres Gefühl. Die Volksvertreterinnen und -vertreter haben gut kommuniziert, in meinem Umfeld wurde den Leuten schnell geholfen. Ich war ein wenig erstaunt über die Zurückhaltung der Menschen, Masken zu tragen. Ich hatte Angst um ältere Bekannte und Unbekannte.

Wie gross ist Ihre eigene Angst vor Covid-19?
Sagen wir es so: Ich habe vor Krankheiten generell Respekt, weil ich als Selbständige ja nicht krankgeschrieben werden kann.

Star-Autorin Sibylle Berg verrät, wie sie das Krisenjahr erlebt hat.
Foto: Katharina Lütscher
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In Ihrer diesjährigen 1.-August-Rede sagten Sie zur Schweizer Corona-Politik: «Es wurde Ruhe und Besonnenheit vermittelt, die Bevölkerung dankte es mit ruhigem, besonnenem Verhalten.» Sehen Sie das heute auch noch so?
Nein. Ich verstehe nicht, was da gerade passiert. Obwohl das mit Vorbehalt zu sagen ist – vielleicht hat sich die Situation, bis unser Gespräch erscheint, ja schon wieder geändert. Im Moment aber verstehe ich nicht wirklich, warum unsere Politiker mit der Erfahrung der ersten Welle nicht ein wenig besser vorbereitet in den Winter gingen. Natürlich ist Meckern immer einfach, und es ist für die meisten von uns die erste globale Krise, auch für die Staatsfrauen und -männer. Aber all die seltsame Unklarheit gerade macht vielen Menschen Sorgen.

Wie meinen Sie das?
Als die Verantwortung im Umgang mit der Pandemie wieder an die Kantone ging, gab es lange keine Einheit, keine klare, gut vermittelte Strategie, dafür die seltsame Inkaufnahme des Todes von Menschen. Die Verantwortung wurde an die Bevölkerung ausgelagert. Und weil keine finanzielle Hilfe zu erwarten war, mussten viele halt irgendwie weiter wirtschaften. Ich finde es katastrophal. Von der Ablehnung von Gehaltserhöhungen für Pflegende bis zu dem Umstand, dass kleine Betriebe und Selbständige jetzt bankrottgehen werden.

Ich nehme an, Sie sprechen damit auch die Situation in Ihrem Umfeld an.
Ja. Die ist relativ verzweifelt. Es gibt zwar Nothilfen, die greifen, wenn man keinerlei Besitz hat. Doch diese helfen den wenigsten. Ich mache mir wirklich Sorgen um den Zustand vieler Bekannter. Viele künstlerische Unternehmen, Techniker, Veranstalter, Theater und so weiter werden beruflich nicht überleben. Sie kommen dann in einer Zeit mit vielen anderen Arbeitslosen auf den Markt.

Als Autorin können Sie auch in der Isolation schreiben, trotzdem sind Sie von den Auswirkungen der Pandemie betroffen: Wenige Tage nach der Premiere Ihres neuen Theaterstücks Ende Oktober in Berlin musste das Gorki Theater schliessen, und Ihr Stück wurde abgesetzt. Wie sehr schmerzt Sie das?
Mich trifft es, wie fast alle, finanziell. Ich habe das Glück, dass ich letztes Jahr und dieses Jahr Preise bekommen habe und etwas sparen konnte. Aber das Einkommen eines ganzen Theaterjahrs ist weg. Stücke von mir spielten an über zwanzig europäischen Theatern, und mein Einkommen setzt sich aus Büchern und Theatereinnahmen zusammen. Ich jammere nicht. Ich habe alles zum Leben. Aber Sie haben gefragt.

Ja – und Sie haben es eben angesprochen: Sie gewannen 2019 den Schweizer Literaturpreis, dieses Jahr den Grand Prix Literatur, den Bertolt-Brecht- und den Johann-Peter-Hebel-Preis. Es hagelt derzeit Buchpreise für Sie. Wie erklären Sie sich das?
Vielleicht sterbe ich bald, oder ich hatte einfach mal Glück? (lacht) Ich habe keine Ahnung. Gerade die Preise in der Schweiz haben mich sehr froh gemacht. Es war ein wenig, als ob ich nach über 20 Jahren als Schweizer Künstlerin angekommen wäre. Nun ja, zumindest im deutschsprachigen Teil des Landes. Und wie gesagt, es war meine Rettung für dieses Jahr. Wobei Preise immer sehr willkürlich sind und auf jede Preisträgerin viele kommen, die eben verlieren. Eine vernünftige Künstler-Sozialkasse wäre mir lieber als noch ein Preis.

Woran arbeiten Sie zurzeit?
Ich hatte zwei Theaterstücke in Vorbereitung, die jetzt auf unbestimmt verschoben wurden. Jetzt schreibe ich halt wieder ein Buch. Es wird hoffentlich die positive Fortsetzung von GRM-Brainfuck, was ja als Dreiteiler angedacht war.

Konzerte und Theater fallen aus, Kinos sind geschlossen. Wie sehr setzt uns dieser kollektive Kulturverzicht als Gesellschaft zu?
Was das alles mit uns als Gesellschaft macht, ist mir noch nicht klar. Wenn man genau hinsieht, dann merkt man, welchen Stellenwert die meisten Kleinbürger, wie Sie und ich, haben: arbeiten, funktionieren und konsumieren. Tunlichst nicht krank werden und im Fall einer Katastrophe eventuell fallen gelassen zu werden. Kurz: Unser Gesellschafts- und Wirtschaftssystem zeigt, dass weder die Märkte irgendetwas regeln noch dass es jeder aus eigener Kraft schaffen kann.

Was können wir Ihrer Meinung nach dagegen tun?
Uns bei kommenden Wahlen genau ansehen, welche Politiker uns im Stich gelassen haben, selber in Parteien eintreten und versuchen, etwas zu ändern. Denn im Moment leben wir in einem Klassensystem, in dem über 80-jährige Milliardäre keine Angst haben müssen, kein Intensivbett zu bekommen, und Banken keine Angst haben müssen, pleitezugehen.

Ihr aktuelles Buch «Nerds retten die Welt – Gespräche mit denen, die es wissen» beinhaltet Interviews mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der Neuropsychologie, Meeresökologie oder Gewaltforschung. Wären Sie selber gerne Wissenschaftlerin geworden?
Ja, das stelle ich mir heute ab und zu vor. Während und nach der Schulzeit war ich sehr lange sicher, ich würde Naturwissenschaftlerin werden. Keine Ahnung, wie es dann doch Schriftstellerei wurde. Aber ich war nie wirklich unglücklich mit der Entscheidung. Naja, nur manchmal. Jetzt zum Beispiel.

Warum?
Weil meine Arbeit mir gerade sinnlos scheint. So in den leeren Raum.

In England wird bereits gegen Corona geimpft, in der Schweiz sollen die Covid-19-Impfstoffe Anfang 2021 kommen. Werden Sie sich impfen lassen?
Vermutlich. Irgendwann, wenn ich drankomme. Ich mag ja wie erwähnt Wissenschaft und den medizinischen Fortschritt, ich lasse mich gegen alles impfen, was es gibt. Immer her damit. Ich begrüsse es aber sehr, dass wir die Mittel gut prüfen.

Was sagen Sie als «grosse Freundin von apokalyptischen Szenarien»? Dürfen wir dank den Impfstoffen wieder in eine optimistischere Zukunft blicken?
Ich kanns Ihnen gerade nicht sagen. Im Moment müssen wir erst einmal aufpassen, um die Toten trauern, sehen, wer Hilfe braucht. Fragen Sie mich im Frühjahr noch einmal. Im Moment müssen wir alle versuchen, wieder zu hoffen. So albern Hoffnung auch ist, wenn man weiss, wie unser Leben endet, so sorgt sie doch für eine gute Laune. Im Moment gibt es eben nicht einmal die Hoffnung auf die kleinen Ausbrüche aus dem Alltag. Auf Sommer und Strand und was immer Menschen sich gönnen, um nicht nur funktionierende Maschinen zu sein.

Besteht Hoffnung für uns als Gesellschaft nach Corona?
Ja, die Schweiz hat ein immer noch gut funktionierendes politisches System, auch wenn hier, wie überall, der Einfluss der Wirtschaft und des Vermögens auf die Entscheidungen der Politik einen zu grossen Einfluss haben. Ich hoffe, man anerkennt die übermenschlichen Leistungen der Menschen in der Pflege finanziell, überdenkt das System der Privatisierung des Gesundheitswesens und findet sich wieder in der Bevölkerung. Ich habe den Zusammenhalt der Schweizer immer sehr bewundert und geschätzt. Wir müssen einfach aufpassen, dass wir uns als Gesellschaft nicht spalten und uns gegeneinander aufhetzen lassen, denn das nützt immer nur politischen und wirtschaftlichen Interessen – und verdirbt uns zudem unsere gute Laune.

Die Katastrophen-Expertin

Sibylle Berg wurde in Weimar, der ehemaligen DDR geboren, studierte Ozeanografie und schrieb schon früh eigene Texte. Gleich mit ihrem Debütroman «Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot» gelang ihr 1997 der Durchbruch. Das Werk der polarisierenden Autorin umfasst neben unzähligen Essays und Kolumnen 28 Theaterstücke und 15 Romane, die in 34 Sprachen übersetzt wurden. Für ihren aktuellen Roman «GRM – Brainfuck» wurde sie unter anderem mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. 2020 erhielt Sibylle Berg, die seit 25 Jahren in Zürich lebt, die Schweizer Staatsbürgerschaft und erhielt für ihr Werk den Grand Prix Literatur, die höchste Auszeichnung, welche in der Schweiz für literarisches Schaffen vergeben wird.

Sibylle Berg wurde in Weimar, der ehemaligen DDR geboren, studierte Ozeanografie und schrieb schon früh eigene Texte. Gleich mit ihrem Debütroman «Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot» gelang ihr 1997 der Durchbruch. Das Werk der polarisierenden Autorin umfasst neben unzähligen Essays und Kolumnen 28 Theaterstücke und 15 Romane, die in 34 Sprachen übersetzt wurden. Für ihren aktuellen Roman «GRM – Brainfuck» wurde sie unter anderem mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. 2020 erhielt Sibylle Berg, die seit 25 Jahren in Zürich lebt, die Schweizer Staatsbürgerschaft und erhielt für ihr Werk den Grand Prix Literatur, die höchste Auszeichnung, welche in der Schweiz für literarisches Schaffen vergeben wird.

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