Alt Bundesrätin Ruth Dreifuss über die Chancen der AHV-Reform
«Entscheidend ist, was die Leute in Franken und Rappen erhalten»

Als damalige Sozialministerin hat alt Bundesrätin Ruth Dreifuss die letzte grosse AHV-Reform an der Urne durchgebracht. Die jetzigen Rentenreformen betrachtet sie kritisch.
Publiziert: 17.12.2021 um 00:33 Uhr
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Aktualisiert: 17.12.2021 um 07:01 Uhr
Interview: Ruedi Studer

Es sind zwei Mammut-Projekte, die das Parlament in der Wintersession behandelt hat. Die AHV-Reform, die das Frauenrentenalter auf 65 erhöht, ist unter Dach und Fach. Das Referendum dagegen ist bereits angekündigt. Auch die vom Nationalrat aufgegleiste Reform der beruflichen Vorsorge (BVG) steht unter Beschuss. Der Umwandlungssatz soll von 6,8 auf 6 Prozent sinken, doch trotz Renteneinbussen soll es nur für eine Minderheit einen Rentenzuschlag geben. Hält das Parlament an diesem Kurs fest, ist auch hier eine Volksabstimmung unausweichlich.

Beiden Vorlagen ist eines gemein: Sie haben an der Urne einen schweren Stand. In den letzten 20 Jahren sind strukturelle Reformen an der Urne gescheitert. Alt Bundesrätin Ruth Dreifuss (81) ist die letzte Sozialministerin, die mit der 10. AHV-Revision erfolgreich eine grosse AHV-Reform durchgebracht hat. Im Blick-Interview erklärt sie, wie ein solches Projekt gelingen kann.

Blick: Frau Dreifuss, braucht es überhaupt eine AHV-Reform?
Ruth Dreifuss: Ja, sicher! Früher gab es etwa alle fünf Jahre eine AHV-Reform, jetzt seit über 20 Jahren nicht mehr. Das macht mir Sorgen. Ich möchte aber betonen: Die AHV ist nicht in Gefahr. Wir müssen aber für die Zukunft schauen.

Alt Bundesrätin Ruth Dreifuss: «Die AHV ist nicht in Gefahr. Wir müssen aber für die Zukunft schauen.»
Foto: Keystone
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Nicht in Gefahr? Es drohen doch Milliardenlöcher.
Um das zu ändern, braucht es einen politischen Entscheid. Ist der politische Wille dazu vorhanden, kann man die AHV finanziell sehr rasch wieder ins Gleichgewicht bringen und sogar ausbauen. Bis jetzt haben alle erfolgreichen Reformen die AHV finanziell gesichert und für die Rentnerinnen und Rentner auch Verbesserungen gebracht.

Frühere Sozial- und Gesundheitsministerin

Ruth Dreifuss wurde am 9. Januar 1940 in St. Gallen geboren. Sie war 1999 die erste Schweizer Bundespräsidentin. 1993 bis 2002 stand sie dem Innendepartement vor. Sie brachte unter anderem die 10. AHV-Revision beim Volk durch, ebenso die obligatorische Krankengrundversicherung. Vor ihrer Wahl war sie Gewerkschafterin, Entwicklungshelferin, Journalistin und als Berner Stadträtin politisch aktiv. Von 2016 bis 2020 war sie Präsidentin der internationalen Kommission für Drogenpolitik. Dreifuss lebt heute in Genf.

Ruth Dreifuss wurde am 9. Januar 1940 in St. Gallen geboren. Sie war 1999 die erste Schweizer Bundespräsidentin. 1993 bis 2002 stand sie dem Innendepartement vor. Sie brachte unter anderem die 10. AHV-Revision beim Volk durch, ebenso die obligatorische Krankengrundversicherung. Vor ihrer Wahl war sie Gewerkschafterin, Entwicklungshelferin, Journalistin und als Berner Stadträtin politisch aktiv. Von 2016 bis 2020 war sie Präsidentin der internationalen Kommission für Drogenpolitik. Dreifuss lebt heute in Genf.

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Bei der jetzigen Reform soll die AHV über ein höheres Frauenrentenalter zumindest teilweise saniert werden. Ist das der richtige Weg?
Zur jetzigen AHV-Reform möchte ich mich inhaltlich nicht äussern.

Was braucht es aber, um eine AHV-Reform an der Urne zu gewinnen?
Die Vergangenheit zeigt, dass eine solche Reform im Gleichgewicht sein muss. Das ist uns bei der 10. AHV-Revision gelungen. Einerseits wurde das Frauenrentenalter auf 64 Jahre erhöht, andererseits wurden etwa Betreuungs- und Erziehungsgutschriften eingeführt oder das Einkommenssplitting. Die Frauen mussten etwas geben, haben aber auch etwas dafür bekommen. Eine richtige Kompensation ist also entscheidend.

In der jetzigen Reform erhalten nur neun Frauenjahrgänge eine Kompensation. Reicht das, damit die Reform an der Urne eine Chance hat?
An sich ist Rentenalter 65 für beide Geschlechter wahrscheinlich mehrheitsfähig. Die Kompensation ist aber ungenügend. Für viele Frauen ist das ein Problem. Erst recht, weil die Lohngleichheit noch immer nicht gewährleistet ist. Am Schluss entscheidet nicht eine abstrakte Reform über das Abstimmungsresultat, sondern die Leute schauen, was sie in Franken und Rappen als Rente erhalten. Eine Prognose wage ich deshalb nicht.

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Die AHV-Reform ist im Parlament abgeschlossen, mit der BVG-Reform hat der Nationalrat gerade erst begonnen. Auch hier ist der Handlungsbedarf unbestritten.
In der zweiten Säule sind die Schwierigkeiten viel grösser als in der AHV. Bei der AHV ist der Rentenunterschied zwischen Männern und Frauen dank der 10. AHV-Revision nicht besonders gross. In der zweiten Säule hingegen sind die Unterschiede immens, weil der lange Schatten der Lohnungleichheit und noch weiterer Diskriminierungen niedrige und sogar gar keine Rente zur Folge hat. Eine Reform ist dringend notwendig, aber auch sehr schwierig, weil das System mit dem Kapitaldeckungsverfahren sehr langfristig angelegt ist. Die Leute müssen lange für ihre Rente sparen und wissen lange nicht, was im Alter herausschaut. Umso grösser wäre hier das Bedürfnis nach einem Umlageelement wie in der AHV. Der Sozialpartner-Kompromiss wäre diesem Ansatz nachgekommen.

Die Bürgerlichen haben den Sozialpartner-Kompromiss und damit die Bundesratsvorlage vom Tisch gewischt.
Die Senkung des Umwandlungssatzes ist notwendig, weil die Rendite des Gesparten stark gesunken ist und weil wegen der erhöhten Lebenserwartung die Renten während mehr Jahren ausbezahlt werden müssen. Umso wichtiger sind die Ausgleichsmassnahmen. Eine BVG-Reform hat nur eine Chance, wenn ein breiter Konsens besteht. Da müssen auch die Gewerkschaften und die SP mit im Boot sein.

Dann ist die von den Bürgerlichen aufgegleiste Reform zum Scheitern verurteilt?
Kommt die Vorlage in dieser Form vors Volk, ist ein Nein sehr wahrscheinlich.

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