«Staatsanwalt weigerte sich, unabhängige Gutachten anzuordnen»
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Rechtsanwalt Philip Stolkin:«Staatsanwalt weigerte sich, unabhängige Gutachten anzuordnen»

Asylbewerber Sezgin Dağ (†41) starb auf dem Weg ins Spital Aarberg
Betreuer riefen Taxi statt Ambulanz

Statt einer Ambulanz rufen die Betreuer ein Taxi, als sich ein Asylbewerber mit Schmerzen an sie wendet. Der Mann stirbt. Wer ist verantwortlich?
Publiziert: 31.07.2022 um 17:08 Uhr
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Aktualisiert: 31.07.2022 um 18:23 Uhr
Janina Bauer

Am 12. November 2020 hat Sezgin Dag († 41) Schmerzen in der Brust und ein Taubheitsgefühl in den Armen. Der kurdische Asylbewerber wendet sich an die Betreuung des Bundesasylzentrums (BAZ) Kappelen im Kanton Bern, wo er seit einigen Wochen lebt. Um 17.51 Uhr kommt er ins Spital Aarberg. Die behandelnde Ärztin vermerkt in ihrem Bericht, der SonntagsBlick vorliegt: «Die Anamneseerhebung ist stark erschwert, der Patient spricht nur Türkisch.» Einen Dolmetscher ruft sie nicht. Stattdessen übersetzt eine Freundin des Patienten – selbst Geflüchtete – am Telefon. Wie gut sie Deutsch spricht ist unklar, da die Frau nicht mit dem SonntagsBlick sprechen möchte. Das Fazit der Ärztin nach den Untersuchungen: Keine Anhaltspunkte für einen Herzinfarkt oder ein Herzversagen. Sie verschreibt Schmerz- und Beruhigungsmittel und entlässt ihn gegen 21 Uhr. Dabei ist sein Herz vorbelastet, 2019 legt man ihm in der Türkei einen Stent, eine Gefässstütze. Im September 2020 wurde er in der Kardiologie des Inselspitals Bern zur Kontrolle bereits ausführlich untersucht. All das ist seiner Krankenakte zu entnehmen.

Taxi statt Ambulanz

Kaum zurück im Asylzentrum, wendet sich der Kurde gegen 23 Uhr erneut an einen Betreuer und den Nachtwächter. Beide Männer sind weder medizinische Pflegekräfte noch des Türkischen mächtig. Durch seine Gesten hätten sie verstanden, dass er Schmerzen im Bauch hatte, werden die beiden später in einer Vernehmung mit der Polizei aussagen. Der Wachmann sagt: «Es war schwierig, zu erkennen, wie gross seine Schmerzen waren.» Dennoch war klar: Sezgin Dag muss ins Krankenhaus. Eine Ambulanz rufen sie nicht, stattdessen setzten sie ihn gegen 23.10 Uhr allein in ein Taxi. Als der Wagen nur 10 Minuten später im Spital eintrifft, ist Dag nicht mehr ansprechbar – und ohne Puls. Die Ärztinnen versuchen, ihn zu reanimieren. Ohne Erfolg.

Um 00.20 Uhr wird Sezgin Dag für tot erklärt. Todesursache: unklar.

Verlobte Nurcan (l.) und Mutter Hanım trauern um den Verlust von Sezgin Dağ. Das Bild wurde in ihrem Daheim in Istanbul aufgenommen.
Foto: zvg
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Der Traum vom Leben ohne Unterdrückung

An einem Samstagvormittag im Juli schaltet sich seine Familie in einem Videocall zu. Verlobte Nurcan (44), Mutter Hanim (60) und Schwester Medine (34) rufen aus Istanbul an. Bruder Mürteza (40) aus einer Flüchtlingsunterkunft im Kanton Zürich. Mutter und Verlobte sitzen auf einem Sofa, zwischen ihnen hängt ein Bild von Sezgin an der Wand. Mürteza ist Sozialist, wie auch sein Bruder Sezgin es war. Wegen ihres politischen Engagements wurden sie von Erdogans Regierung verfolgt und zeitweise ins Gefängnis gesteckt. Ihnen blieb nur die Flucht. Mürteza ging 2018, Sezgin folgte zwei Jahre später. «Als meine Söhne in die Schweiz gingen, habe ich gehofft, dass sie endlich ein Leben in Freiheit leben können», sagt Mutter Hanim. Sie selbst wollte nachkommen, ebenso Nurcan und Medine. Der Traum: Ein neues, gemeinsames Leben in der Schweiz. Ohne Unterdrückung. Als sie davon erzählt, weint Sezgins Verlobte. Auch Mutter und Schwester kämpfen mit den Tränen. Zur Trauer kommt die Verzweiflung. Bereits im Dezember 2020 forderten sie mit einer Petition die Aufklärung des Falls beim Staatssekretariat für Migration (SEM). Bis heute kamen keine Antworten.

Juristen werfen mehrere Fragen auf

Die Familie sucht sich juristische Unterstützung. Für ihre Anwälte Annina Mullis (36) und Philip Stolkin (56) stellen sich drei zentrale Fragen: «Hätte die Ärztin im Spital Aarberg Sezgin Dag anders behandeln, ihn länger dort behalten müssen? Wieso hat man im Bundesasylzentrum keine Ambulanz gerufen? Warum kommt die Staatsanwaltschaft ihrer Untersuchungspflicht nicht nach?», fasst Stolkin zusammen.

Die Medienstelle der Inselgruppe, zu der auch das Spital Aarberg gehört, möchte sich zum Fall nicht äussern. Stattdessen wird betont, dass man sich an die gesetzlichen Vorgaben zum Einsatz eines Dolmetschers halte: «Soweit es medizinisch notwendig ist, arbeiten wir einerseits mit Dolmetscherdiensten und andererseits nutzen wir, wo vorhanden, punktuell die bestehenden Sprachkenntnisse der Mitarbeitenden.» Wieso man im Fall Dag nicht darauf zurückgriff, sondern auf die telefonische Übersetzung einer Freundin, wird nicht beantwortet.

Vorgänge liefen nach Vorschrift ab

Auch die ORS möchte keine Auskunft geben. Das Unternehmen betreut das Bundesasylzentrum Kappelen im Auftrag des SEM. Laut SEM-Sprecher Lukas Rieder sind die Vorgänge am Abend des 12. Novembers 2020 nach Vorschrift abgelaufen: «In jedem Fall wird aufgrund des Gesundheitszustands entschieden, ob eine Ambulanz herbeigerufen werden muss. Bestehen Zweifel, wird die Ambulanz informiert.» Festgelegt ist das im Betriebskonzept Unterbringung (Beko). Wie konkret eine Notfallsituation aussieht, ist darin jedoch nicht definiert. Die Entscheidungsmacht liegt bei der Person, die mit dem Notfall konfrontiert ist. Rieder betont auch, dass grundsätzlich immer die Möglichkeit bestehe, einen Dolmetscher herbeizurufen.

Staatsanwaltschaft untersucht den Todesfall

Staatsanwalt Amaël Gschwind von der Staatsanwalt Bern Jura-Seenland untersucht den Todesfall. Er ordnete die Vernehmung des Wachmanns, des Betreuers und des Taxifahrers an und liess ein rechtsmedizinisches Gutachten an der Uni Bern erstellen. Mullis und Stolkin reicht das nicht: Es seien nur wenige Leute befragt worden, und das rechtsmedizinische Gutachten sei weder vollständig noch unabhängig. Die Anwälte wollen weitere Personen wie die Ärztin des Spitals Aarberg befragen und fordern ein unabhängiges kardiologisches Gutachten. Doch die Staatsanwaltschaft lehnte alle zwölf Beweisanträge ab. Deswegen zog Familie Dag vor das Obergericht Bern. Am letzten Mittwoch reichte sie ihre finale Stellungnahme ein.

Obergericht befasst sich mit dem Fall

Die Staatsanwaltschaft hält die Beweisanträge für nicht relevant zur Klärung des Sachverhalts. Weitere Fragen will sie nicht beantworten. Sprecher Christof Scheurer verweist auf die ausstehende Entscheidung des Obergerichts: «Der Vorwurf, die Staatsanwaltschaft komme ihrer Untersuchungspflicht nicht ausreichend nach, ist ein oft gehörter. Ob dem vorliegend so ist oder nicht, wird die Beschwerdekammer abschliessend zu beurteilen haben.»

Familie wünscht sich das der Fall geklärt wird

Hätte das Leben von Sezgin Dag gerettet werden können? Diese Frage stellt sich seine Familie immer und immer wieder. Noch hoffen sie, dass der Fall aufgeklärt wird. «Wir wollen die Verantwortlichen für diese Nachlässigkeiten finden. Damit wollen wir verhindern, dass anderen Geflüchteten so etwas geschieht. Dass niemand die gleichen Schmerzen fühlen muss wie wir», sagt Schwester Medine.

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