«Diese Fälle sind nur die Spitze des Eisbergs»
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Schockierende Zahlen:«Diese Fälle sind nur die Spitze des Eisbergs»

Bischof Joseph Bonnemain zum Missbrauchsskandal
«Die Betroffenen haben das Recht, nicht zu verzeihen»

Richter oder Vermittler? Joseph Bonnemain muss als Bischof von Chur die Missbräuche in der katholischen Kirche aufklären und weitere verhindern. Er sagt, wie die Opfer – und die Kirche – Frieden finden können.
Publiziert: 14.12.2023 um 12:01 Uhr
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Aktualisiert: 17.01.2024 um 17:21 Uhr
Lynn Scheurer
Schweizer Illustrierte

Verlässt der Bischof morgens seine Wohnung, geht er an grossen Tafeln vorbei. Im bischöflichen Schloss, das über Chur thront, stehen an der Wand die Pflichten eines jeden Bischofs geschrieben. «Die Tugenden», sagt Joseph Bonnemain (75). Er ist seit 2021 Bischof von Chur und hat unter anderem die Aufgabe, die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche in der Schweiz aufzuarbeiten. Dazu gehört die Studie der Uni Zürich, welche über 1000 Missbrauchsfälle zutage gefördert hat. «Sehen Sie diese Tafel hier», sagt Bonnemain. «Hier steht geschrieben, dass ein Bischof ganz besonders gerecht sein soll.»

Haben Sie schon mal erlebt, dass eine missbrauchte Person und ein Täter miteinander Frieden geschlossen haben?
Um ehrlich zu sein: noch nicht. Ich habe Betroffene erlebt, die dazu bereit gewesen wären. Aber es ist schwierig, Täter zu finden, welche einsichtig sind, dass sie jemandem wehgetan haben. Täter, die sich nicht rechtfertigen, den Missbrauch nicht bagatellisieren und auch nicht ausblenden.

Artikel aus der «Schweizer Illustrierten»

Dieser Artikel wurde erstmals in der der «Schweizer Illustrierten» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.schweizer-illustrierte.ch.

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Können Sie diesen Tätern verzeihen?
Für mich ist es einfacher, weil ich nicht direkt betroffen bin. Ich gehe liebevoll, friedfertig, zugeneigt und mit Empathie auf jeden Menschen zu – auch auf Täter. Die Betroffenen hingegen haben das Recht, nicht zu verzeihen.

Bischof Bonnemain im «Papstzimmer» des bischöflichen Schlosses: Dieser Raum in Chur ist jederzeit für einen Besuch des Papstes bereit.
Foto: Kurt Reichenbach

Als christliche Person muss man doch verzeihen können?
Nein. Es ist das Schönste, wenn man es kann. Aber es sollte freiwillig und aus Überzeugung geschehen. Und das ist ein langer Weg. Verzeihen fällt den Betroffenen leichter, wenn sie sehen, dass die Kirche sich verändert. Wenn sie darauf vertrauen können, dass die Menschen in Zukunft vor solchen Taten bestmöglich geschützt sind.

Wie wollen Sie das schaffen?
Beruhigt sind die Menschen erst, wenn wir uns mit dem Ausmass des Missbrauchs restlos auseinandergesetzt haben. Solange die Kirche das nicht wagt, bleibt eine Wunde in den Herzen zurück. Die Kirche muss Massnahmen treffen, damit das nie mehr vorkommen kann. Sonst finden die Betroffenen keinen Frieden.

In der Umkleide: Hier zieht sich Bischof Bonnemain für seine Gottesdienste um.
Foto: Kurt Reichenbach

Ist eine dieser Massnahmen die Abschaffung des obligatorischen Zölibats?
Nicht unbedingt.

Warum nicht?
Das Zölibat ist ein Faktor beim Missbrauch, aber nicht der Hauptgrund. Durch seine Abschaffung allein hätten wir noch nicht viel getan für die Prävention von Missbräuchen.

Der enthaltsame Lebensstil zieht doch offensichtlich falsche Personen an.
Ich kann mir vorstellen, dass das Zölibat in Zukunft keine Pflicht mehr sein wird, sondern eine Option. Und jene, welche zölibatär leben möchten, müssen stärker überprüft werden. Wir müssen alle Kandidaten gründlich und professionell prüfen und die Bedingungen sehr hoch ansetzen. Sonst bekommen wir wieder Schwierigkeiten.

«Der Papst sagte zu mir: ‹Joseph, verlier bloss nicht deinen Humor!›»
Foto: Kurt Reichenbach

Was haben Sie sonst noch vor?
Wir wollen ein nationales kirchliches Straf- und Disziplinargericht installieren. Zudem haben wir beschlossen, dass keine Akten aus den Archiven, in denen es um Missbrauch geht, vernichtet werden dürfen. Wir setzen die professionelle Einführung von Personaldossiers um, unter Einbezug von Experten. Für die Zulassung von Seelsorgekandidaten werden derzeit die Regelungen erarbeitet. Die Einrichtung einer nationalen unabhängigen Meldestelle für alle Betroffenen ist im Gang. Und ich habe im Bistum Chur einen Verhaltenskodex veröffentlicht, der einen adäquaten Umgang mit allen Menschen in puncto Nähe und Distanz im kirchlichen Umfeld regelt.

Was braucht die Kirche, um Frieden zu finden?
Schlichtheit, Demut, Bescheidenheit.

Ist es für Frieden in der katholischen Kirche nicht schon zu spät?
Wir müssen immer wieder neu anfangen. Wir sind ein Volk von Suchenden, welche das Ziel noch nicht erreicht, die Weisheit noch nicht gefunden haben. Resignation ist aber keine Option.

In der kleinen Kapelle hält der ehemalige Chirurg regelmässig Gottesdienst für das Personal der Bistumsleitung und für Gläubige, die ihn besuchen.
Foto: Kurt Reichenbach

Und was braucht ein Mensch, um mit sich selbst Frieden zu finden?
Frieden mit sich selbst kann man nur ausserhalb von sich finden.

Wie meinen Sie das?
Der Mensch ist ein Beziehungswesen. Er entfaltet sich im Austausch, in Zärtlichkeit und Umarmung, in Nähe und Kommunikation. Möchte ich Frieden finden, muss ich ihn in Beziehung mit Gott und den anderen Menschen suchen.

Glauben Sie an eine Welt ohne Krieg?
Ja.

Warum?
Jesus Christus hat gesagt: «Friede hinterlasse ich euch. Meinen Frieden gebe ich euch.» Aber nach Jesu’ Geburt suchten Maria und Joseph eine Herberge und fanden keine. Mit dem Erscheinen von Jesus war der Frieden zwar geboren, aber entscheidend ist, ob wir ihm Platz geben oder nicht. Frieden braucht einen Platz in unseren Herzen.

Koch Michèl Hug empfängt Joseph Bonnemain in der Hofkellerei. Hier wird es im neuen Jahr einen öffentlichen Stammtisch mit dem Bischof geben.
Foto: Kurt Reichenbach

Was heisst das konkret?
Frieden heisst nicht, in Ruhe gelassen zu werden. Das ist oberflächlich. Wir haben Krieg in der Ukraine, in Israel und Palästina und an vielen anderen Orten der Welt. Das treibt mich um. Wir sind doch alle Geschwister, Kinder Gottes. Zu denken, man könne mit sich selbst in Frieden sein, während Kriege toben, ist purer Egoismus.

Als einzelne Person kann man doch gar nichts gegen diese Kriege ausrichten.
Frieden beginnt im eigenen Herzen und geht dann hinaus in die Welt. Er beginnt ganz klein. Wenn ich Spannungen mit meinen Geschwistern oder in der Nachbarschaft habe, dann kann ich nicht Frieden stiften. Wir brauchen Oasen des Friedens, die sich ausbreiten und nach und nach die Welt verändern. Eine Pandemie des Guten.

Trotzdem: Der Mensch ist zu Schlimmem fähig. Haben Sie selbst mit Missbrauchsopfern gesprochen?
Ja.

Was ist Ihnen davon geblieben?
Wie kann ich die Betroffenen davon überzeugen, dass sie keinerlei Schuld tragen an dem, was ihnen passiert ist? Keinen Millimeter Schuld.

Drei Kugeln für die Dreifaltigkeit? Im bischöflichen Schloss kann man die Billardvariante Karambolage spielen.
Foto: Kurt Reichenbach

Wie gehen Sie mit Berufskollegen um, welche finden, man solle die Kirche nun endlich in Ruhe lassen?
Verständnisvoll und geduldig. Dasselbe gilt für jene, welche die Kirche komplett umkrempeln möchten. Ein Bischof, der nur für eine kleine Clique da ist, ist fehl am Platz.

Was tun Sie selbst für den Frieden?
Ich versuche jeden Tag, für meine Umgebung da zu sein und Verständnis zu haben. Das Leben ist schön, man muss es nur entdecken.

Fluchen Sie eigentlich auch mal?
Im Herzen sage ich dem Herrn schon manchmal, dass ich die Nase voll habe. Aber der nächste Gedanke ist: Hilf mir weiterzumachen.

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