Bürgerin zweiter Klasse
Anne Tercier durfte jahrelang nicht abstimmen

Menschen, die unter umfassender Beistandschaft stehen, dürfen nicht abstimmen oder wählen. Anne Tercier weiss, was das bedeutet. Sie setzt sich dafür ein, dass alle Bürger wählen dürfen. In Genf wird heute darüber abgestimmt.
Publiziert: 28.11.2020 um 11:12 Uhr
Noa Dibbasey

Vor knapp 50 Jahren, am 7. Februar 1971, erhielten auch Schweizerinnen das Stimmrecht. Seitdem darf wirklich jede Bürgerinnen, jeder Bürger ab 18 Jahren abstimmen und wählen. Oder? In der Tat bleibt einer Bevölkerungsgruppe das politische Recht verwehrt: Menschen, die wegen einer Behinderung oder hohem Alter unter umfassender Beistandschaft stehen, haben in der Schweiz kein Stimmrecht.

Anne Tercier (41) weiss, wie sich das anfühlt. Sie lebt in einer Einrichtung in Lausanne VD, die Menschen mit geistiger Behinderung aufnimmt. Sie ist politisch immer interessiert, nahm immer am Geschehen teil – und stimmte fleissig ab. Bis vor zwei Jahren im Kanton Waadt das Vormundschaftsrechts geändert wurde. Von einem Tag auf den anderen erhielt Tercier kein Stimmmaterial mehr. «Ich hatte politische Rechte und dann plötzlich nicht mehr», erzählt sie. «Das war schrecklich für mich!»

Tercier zog vor Gericht

Doch Tercier gab nicht auf. Für sie war klar: «Dagegen wehre ich mich!» Sie zog vor Gericht, um ihr Bürgerrecht einzuklagen. Dass sie das konnte, war Glück: Denn nur in den drei Kantonen Waadt, Genf und Tessin können Menschen unter umfassender Beistandschaft ihr politisches Recht überhaupt über ein Gericht einfordern.

Der Kanton Genf stimmt am Sonntag drüber ab, ob auch unter voller Beistandschaft stehende Personen wählen und abstimmen dürfen.
Foto: AFP
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Unterstützt wurde Tercier dabei nicht von ihrem Beistand – sondern von ihrem Arzt. «Er hat meine Urteilsfähigkeit bestätigt», erzählt die Lausannerin. Und allein dadurch erlangte sie ihr Wahl- und Stimmungsrecht zurück.

Was bedeutet es, unter umfassender Beistandschaft zu stehen?

BLICK erklärt, welche Menschen von einem Ja in Genf betroffen wären und was eine umfassende Beistandschaft genau bedeutet.

Bei der Behindertenorganisation insieme rechnet man in der Schweiz mit rund 60'000 Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung. «Dazu zählt man Menschen mit einer Entwicklungsverzögerung oder einer Lernbeeinträchtigung. Die Beeinträchtigung kann unterschiedlich stark sein. Je nachdem benötigen diese Personen mehr Zeit zum Lernen, zum Verstehen oder auch Unterstützung im Alltag», erklärt Projektleiter Jan Habegger.

Davon benötigten aber bei weitem nicht alle einen umfassenden Beistand. «In der Schweiz stehen rund 15'000 Menschen unter einer umfassenden Beistandschaft. Davon haben aber nicht alle eine geistige Behinderung. Es handelt sich auch oft um ältere Menschen mit Demenz oder Personen, die nach einem Unfall langfristig im Koma liegen», so Habegger. Die Abstimmung in Genf betrifft 1200 Personen.

Die meisten Menschen mit einer geistigen Behinderung können also bereits jetzt wählen und abstimmen gehen. Denn die umfassende ist die strengste Form der Beistandschaft. Sie ist für jene gedacht, die sehr viel Hilfe benötigen und in allen Belangen vertreten werden müssen. Der Beistand vertritt die Person in praktisch allen Bereichen.

Jan Habegger von insieme
Vera Markus

BLICK erklärt, welche Menschen von einem Ja in Genf betroffen wären und was eine umfassende Beistandschaft genau bedeutet.

Bei der Behindertenorganisation insieme rechnet man in der Schweiz mit rund 60'000 Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung. «Dazu zählt man Menschen mit einer Entwicklungsverzögerung oder einer Lernbeeinträchtigung. Die Beeinträchtigung kann unterschiedlich stark sein. Je nachdem benötigen diese Personen mehr Zeit zum Lernen, zum Verstehen oder auch Unterstützung im Alltag», erklärt Projektleiter Jan Habegger.

Davon benötigten aber bei weitem nicht alle einen umfassenden Beistand. «In der Schweiz stehen rund 15'000 Menschen unter einer umfassenden Beistandschaft. Davon haben aber nicht alle eine geistige Behinderung. Es handelt sich auch oft um ältere Menschen mit Demenz oder Personen, die nach einem Unfall langfristig im Koma liegen», so Habegger. Die Abstimmung in Genf betrifft 1200 Personen.

Die meisten Menschen mit einer geistigen Behinderung können also bereits jetzt wählen und abstimmen gehen. Denn die umfassende ist die strengste Form der Beistandschaft. Sie ist für jene gedacht, die sehr viel Hilfe benötigen und in allen Belangen vertreten werden müssen. Der Beistand vertritt die Person in praktisch allen Bereichen.

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Abstimmung in Genf macht Hoffnung

Seitdem setzt sich Tercier dafür ein, dass alle Bürgerinnen und Bürger abstimmen dürfen – egal in welchen Kanton. Und dafür, dass Wahl- und Abstimmungsinformationen in einfacher Sprache zugänglich sind, so dass auch alle Schweizerinnen und Schweizer verstehen, worum es geht.

Hoffnung macht ihr die Abstimmung vom 29. November in Genf. Dort stimmt man darüber ab, ob künftig alle Menschen mit Schweizer Pass am politischen Diskurs teilnehmen dürfen.

Völkerrechtswidrige Praxis

Auch der Dachverband der Behindertenorganisationen der Schweiz, Inclusion Handicap, fiebert mit Tercier mit. Man hofft, dass nach einem Genfer Ja andere Kantone und der Bund möglichst rasch nachziehen. Denn die heutige Praxis sei völkerrechtswidrig. Tatsächlich besagt die Uno-Behindertenrechtskonvention, dass man eine Person nicht ihrer politischen Rechte berauben dürfe. Die Schweiz hat die Konvention 2014 ratifiziert.

«Politische Rechte sind zentrale Rechte in einer Demokratie», sagt Sprecherin Caroline Hess-Klein. Dass Menschen in der Schweiz als Folge ihrer Behinderung nicht abstimmen dürfen, mache sie zu «Bürgern zweiter Klasse». «Der Kanton Genf ist mit dieser Abstimmung zweifelsohne Pionier bei der Inklusion von Menschen mit Behinderung», sagt Hess-Klein.

Angst vor Missbrauch

Gegner des Stimmrechts für alle geben zu bedenken, dass verbeiständete Menschen die Vorlagen nicht verstehen würden. Und sie fürchten Missbrauch – dass nämlich jemand anders die Stimmzettel ausfüllt. «Wieso stellt man gerade Betreuungspersonen von behinderten Menschen unter Generalverdacht?», fragt Hess-Klein. «Dann müsste man ja bei jeder Person, die in einem Abhängigkeitsverhältnis steht, vor politischem Missbrauch warnen – auch zum Beispiel bei einer blinden Person.»


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