«Wir haben Engpässe beim Betreuungspersonal»
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SEM-Sprecher Reto Kormann:«Wir versuchen, 9'500 Plätze bereitzustellen»

Bund rechnet mit über 10'000 Personen pro Monat
Schweiz bereitet sich auf Flüchtlingswelle vor

Der Krieg in der Ukraine und die Wirtschaftskrise treiben viele Menschen in die Flucht. Beim Bund geht man davon aus, dass bald schon der Asyl-Notfallplan in Kraft treten könnte. Nicht nur der Platz, sondern vor allem auch das fehlende Personal ist ein Problem.
Publiziert: 21.10.2022 um 00:15 Uhr
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Aktualisiert: 21.10.2022 um 13:36 Uhr
Sophie Reinhardt und Lea Hartmann

In der Mehrzweckhalle auf dem Waffenplatz in Emmen LU wird an diesem Donnerstagmorgen gehämmert und geschraubt. Mitarbeitende einer Zügelfirma bauen schwarze Metall-Kajütenbetten zusammen und schälen Matratzen aus der Plastikfolie. Zehn Reihen à zehn Kajütenbetten stehen in der Turnhalle, macht 200 Schlafplätze. Mithilfe eines Lasers kontrollieren die Männer Abstände und Ausrichtung. Auch die Schlafplätze müssen bei der Armee in Reih und Glied stehen.

Die Betten sind allerdings nicht für Soldaten gedacht. Ab nächster Woche sollen hier an der Kasernenstrasse in Emmen Asylsuchende untergebracht werden. Die Turnhalle ist eine von rund 20 vorübergehenden Asylunterkünften, die der Bund gerade parat macht oder in den letzten Wochen bereits in Betrieb genommen hat. Denn es wird dringend mehr Platz benötigt.

Über 10'000 Flüchtlinge pro Monat

Gestern hat der Bund erneut seine Asylprognose nach oben korrigiert. Hinzu kommen die Schutzsuchenden aus der Ukraine. Gut 60'000 Flüchtlinge mit Schutzstatus S leben derzeit in der Schweiz, bis Ende Jahr dürften 20'000 bis 25'000 weitere dazukommen – dies das wahrscheinlichste Szenario laut Staatssekretariat für Migration (SEM). Je nach Wetter und Kriegsverlauf könnten es auch einige Tausende mehr sein. Expertinnen befürchten, dass das russische Militär zurzeit gezielt Strom-, Wasser- und Energieanlagen in der Ukraine zerstört, um Menschen zur Flucht zu zwingen.

Mitarbeiter eines Zügelunternehmens montieren in der Armee-Turnhalle in Emmen LU Betten.
Foto: Siggi Bucher
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Asyl-Prognose erneut nach oben korrigiert

In den ersten neun Monaten des Jahres sind rund 15'000 Asylsuchende in die Schweiz gekommen – so viel wie im ganzen vergangenen Jahr. Im September stellten ein Drittel mehr Menschen Asyl als noch im Vormonat. Angesichts der steigenden Zahl von Migranten hatte das Staatssekretariat für Migration (SEM) die erwartete Anzahl Asylgesuche bis Ende Jahr schon Anfang Monat von 16'500 auf 19'000 erhöht. Inzwischen rechnet der Bund mit 22'000 Gesuchen – mindestens.

Die meisten Menschen, die in der Schweiz derzeit Asyl suchen, stammen aus Afghanistan und der Türkei. Bei diesen Staatsangehörigen wurde auch die grösste Zunahme an Gesuchen im Vergleich zum Vorjahr verzeichnet.

Ein Grund für die steigenden Asylzahlen ist laut SEM die Corona-Krise. Pandemiebedingt war Reisen lange nur eingeschränkt möglich, das betraf auch Flüchtlinge. Zudem hat die Pandemie viele Staaten wirtschaftlich hart getroffen, gerade auch Herkunfts- und Transitländer von Asylsuchenden. Hinzu kommen die Folgen des Ukraine-Kriegs, beispielsweise die Inflation. Das alles dürfte mehr Menschen als sonst dazu bewegt haben, ihre Heimat zu verlassen oder weiterzureisen – in der Hoffnung auf ein besseres Leben in Westeuropa.

Die Mehrheit der Migranten gelangt derzeit über die Balkanroute in die Schweiz. Viele Personen haben sich länger in Griechenland aufgehalten, dort einen Schutzstatus erhalten, ziehen nun aber weiter, stellt das SEM fest. Dass sich unter den Asylsuchenden derzeit so viele Türken befinden, könnte eventuell auch damit zusammenhängen, dass diese in die meisten Westbalkanstaaten visumfrei einreisen können.

Insbesondere die Visapolitik Serbiens trieb die Asylzahlen in Westeuropa in den vergangenen Monaten in die Höhe. Das Land hat die Visumspflicht für mehrere Staaten abgeschafft, darunter Tunesien, Indien und Burundi. Was dazu führte, dass die Zahl der Asylgesuche von Menschen aus Burundi sprunghaft anstieg.

Die starke Zunahme Asylgesuche von Afghanen könnte laut SEM derweil teilweise auch dadurch erklärbar sein, dass manche vielleicht hoffen, nach der Machtübernahme der Taliban bessere Chancen auf Asyl zu haben. Der Umsturz an sich habe aber laut Analysen keine direkten Auswirkungen auf die Aus- oder Weiterwanderung afghanischer Asylsuchender gehabt. Die meisten seien schon vorher aus ihrer Heimat geflohen. (lha)

In den ersten neun Monaten des Jahres sind rund 15'000 Asylsuchende in die Schweiz gekommen – so viel wie im ganzen vergangenen Jahr. Im September stellten ein Drittel mehr Menschen Asyl als noch im Vormonat. Angesichts der steigenden Zahl von Migranten hatte das Staatssekretariat für Migration (SEM) die erwartete Anzahl Asylgesuche bis Ende Jahr schon Anfang Monat von 16'500 auf 19'000 erhöht. Inzwischen rechnet der Bund mit 22'000 Gesuchen – mindestens.

Die meisten Menschen, die in der Schweiz derzeit Asyl suchen, stammen aus Afghanistan und der Türkei. Bei diesen Staatsangehörigen wurde auch die grösste Zunahme an Gesuchen im Vergleich zum Vorjahr verzeichnet.

Ein Grund für die steigenden Asylzahlen ist laut SEM die Corona-Krise. Pandemiebedingt war Reisen lange nur eingeschränkt möglich, das betraf auch Flüchtlinge. Zudem hat die Pandemie viele Staaten wirtschaftlich hart getroffen, gerade auch Herkunfts- und Transitländer von Asylsuchenden. Hinzu kommen die Folgen des Ukraine-Kriegs, beispielsweise die Inflation. Das alles dürfte mehr Menschen als sonst dazu bewegt haben, ihre Heimat zu verlassen oder weiterzureisen – in der Hoffnung auf ein besseres Leben in Westeuropa.

Die Mehrheit der Migranten gelangt derzeit über die Balkanroute in die Schweiz. Viele Personen haben sich länger in Griechenland aufgehalten, dort einen Schutzstatus erhalten, ziehen nun aber weiter, stellt das SEM fest. Dass sich unter den Asylsuchenden derzeit so viele Türken befinden, könnte eventuell auch damit zusammenhängen, dass diese in die meisten Westbalkanstaaten visumfrei einreisen können.

Insbesondere die Visapolitik Serbiens trieb die Asylzahlen in Westeuropa in den vergangenen Monaten in die Höhe. Das Land hat die Visumspflicht für mehrere Staaten abgeschafft, darunter Tunesien, Indien und Burundi. Was dazu führte, dass die Zahl der Asylgesuche von Menschen aus Burundi sprunghaft anstieg.

Die starke Zunahme Asylgesuche von Afghanen könnte laut SEM derweil teilweise auch dadurch erklärbar sein, dass manche vielleicht hoffen, nach der Machtübernahme der Taliban bessere Chancen auf Asyl zu haben. Der Umsturz an sich habe aber laut Analysen keine direkten Auswirkungen auf die Aus- oder Weiterwanderung afghanischer Asylsuchender gehabt. Die meisten seien schon vorher aus ihrer Heimat geflohen. (lha)

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Alles in allem könnten im Herbst und Winter über 10'000 Asyl- und Schutzsuchende pro Monat in die Schweiz kommen. Im Nachbarland Österreich müssen Flüchtlinge derzeit gar in Zelten schlafen, weil die Asylunterkünfte überfüllt sind. Ein Szenario, das man in der Schweiz unbedingt verhindern will. «Wir können nicht erst Plätze suchen, wenn die Leute bei uns vor der Tür stehen. Deshalb sind wir laufend daran, Hallen wie diese in Emmen in Betrieb zu nehmen», sagt SEM-Sprecher Reto Kormann. Die Zahl der verfügbaren Betten wird so von 7500 auf 9500 aufgestockt. Derzeit sind die Unterkünfte des Bundes zu 90 Prozent ausgelastet.

Dringend Personal gesucht

Kormann spricht von einer «sehr herausfordernden Situation». Denn neben dem knappen Platz ist da noch ein zweites Problem: Es fehlt an Personal. Laut den Organisationen, die die Flüchtlinge betreuen, ist es sehr schwierig, geeignete Mitarbeitende zu finden. Gesucht sind Sozialpädagoginnen, Betreuer, medizinisches Personal und weitere Helfer. Eine Folge davon: Unbegleitete minderjährige Asylsuchende, deren Zahl laut Bund massiv zugenommen hat, werden nicht mehr in jedem Fall von einer ausgebildeten Sozialpädagogin betreut. Zudem wurde der Betreuungsschlüssel angepasst: Eine Betreuerin ist nun für mehr Asylsuchende zuständig.

«Wir werden nicht für alle Asylsuchenden zu jeder Zeit und überall genügend und genau das richtige Personal haben», sagt Kormann. Man versuche aber, bei den vulnerabelsten Gruppen möglichst wenig Abstriche zu machen, also beispielsweise bei unbegleiteten Minderjährigen.

Kantone bereiten sich ebenfalls vor

Während der Bund vor allem mit der Unterbringung der regulären Asylsuchenden aus Afghanistan oder der Türkei beschäftigt ist, ist in den Kantonen hauptsächlich die Unterbringung der Ukraine-Flüchtlinge Thema. Denn die Geflüchteten mit Schutzstatus S werden viel rascher den Kantonen zugeteilt.

Auch die Kantone bauen zusätzliche Plätze auf. So hat der Aargau eben erst ein Hotel in Unterentfelden für 150 Personen gemietet. Und Genf hat einen Aufruf gestartet, um zusätzliche Gastfamilien zu finden. In Bern stehen laut der Sozialdirektion bis Ende Jahr 4000 Unterbringungsplätze zur Verfügung. Für den Notfall halte man zudem 4000 Notbetten bereit, die in Turn- oder Mehrzweckhallen aufgestellt werden könnten.

Allerdings: Sollten weiterhin mehr als 2500 neue Asylgesuche pro Monat gestellt werden, müssen die Kantone dem Bund bald unter die Arme greifen. Denn dann, kündigt das SEM an, werde man nicht darum herumkommen, viele Asylsuchenden früher als üblich auf die Kantone zu verteilen.

Notfallplan könnte bald in Kraft treten

Nicht ausgeschlossen ist auch, dass Armee und Zivilschutz zu Hilfe eilen müssen. Der Notfallplan Asyl, den Bund, Kantone und Gemeinden nach der Flüchtlingskrise 2015 und 2016 verabschiedet haben, könnte bald schon in Kraft treten, heisst es beim SEM. Dieser sieht vor, dass der Bundesrat den Einsatz von bis zu 2000 Armeeangehörigen beschliessen könnte. Schon jetzt unterstützt die Armee das SEM nicht nur mit Unterkünften, sondern hilft auch beim Transport der Migranten.

In Emmen müssen die Soldaten wegen der angespannten Asylsituation die nächsten Monate draussen Sport treiben statt in der geheizten Turnhalle. Ende kommender Woche sollen die ersten Asylsuchenden in der Halle einziehen. Der Bund hofft, dass möglichst viele der 200 Betten möglichst lange leer bleiben.

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