Die Schweiz und die Migration
Wie lange sind wir noch ein Einwanderungsland?

Kriminalität, Preisexplosion, Dichtestress: Wie eine jahrhundertealte Formel, die die Eidgenossenschaft zum erfolgreichsten Staat Europas machte, unter Druck gerät.
Publiziert: 31.03.2024 um 00:27 Uhr
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Aktualisiert: 31.03.2024 um 09:01 Uhr
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Reza RafiChefredaktor SonntagsBlick

Pause. Einfach mal Pause. Ist das nicht das beste Ostergeschenk? Ruhe vor der Hysterie des politischen Alltags, der vor allem davon geprägt ist, dass die Parteien die Nation schlechtreden, um ihre Rezepte anzupreisen.

Krisen da, Missstände dort. Geht es nach der SVP, besteht die Schweiz aus lauter Duckmäusern, die sich Brüssel unterwerfen wollen. Für die SP wird das Land vom sexistischen, rassistischen Ausbeutertum beherrscht, laut FDP steht es auf der Vorstufe zum Sozialismus – und die Mitte schliesst sich jeder dieser Haltungen ein bisschen an.

Weltwunder des «Nation Building»

Aber ist die Schweiz tatsächlich jener düstere Winkel im moralischen Niemandsland, ein Egoistenmekka oder gar «Europas Herz der Finsternis», wie das britische Magazin «Economist» 2017 schrieb?

Das Matterhorn: Grenzberg und Symbol der Eidgenossenschaft.
Foto: Switzerland Tourism
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Mitnichten. Der Tag der Auferstehung Christi ist ein passender Anlass, die Vorzüge der Eidgenossenschaft zu würdigen. Trotz aller Probleme – wie finanzieren wir die 13. AHV-Rente? Wie bringen wir Gesundheitskosten und Asylwesen in den Griff? – ist dieses Land ein Weltwunder des «Nation Building», vielleicht das erfolgreichste Friedensprojekt der Menschheit.

Als die Hugenotten kamen

Zwar hat die Alpenrepublik keine Helden vom Format eines Napoleon Bonaparte (1769–1821), Giuseppe Garibaldi (1807–1882) oder Winston Churchill (1874–1965) und auch keine Weltstadt wie Paris, Rom oder London.

Gerade deswegen war die Eidgenossenschaft mit ihrer bäuerlich-republikanischen DNA stets auf die Einverleibung aller nützlichen Kräfte und auf die Überwindung von Konflikten angewiesen. Die Schweiz wurde zur Integrationsmaschine – sie konnte gar nicht anders.

Ein Beispiel aus der frühen Neuzeit ist die Fluchtwelle der Hugenotten, protestantischer Franzosen, die vor der Verfolgung ihres Königs flüchteten. Das Gastland empfing die Zuwanderer mit offenen Armen, sie quittierten es mit neuen gesellschaftlichen Impulsen. Heute gelten Hugenotten-Geschlechter wie Sarasin, Clement oder Régnier bzw. Ringier selbstverständlich als urschweizerische Einheimische.

Wirtschaftlich integrierte sich die Schweiz ihrerseits in Europa – zunächst vor allem im Reisläuferwesen. Junge Männer boten sich fremden Mächten als Krieger an. Die Söldner waren seit dem Spätmittelalter eine der wichtigsten Einkommensquellen der Nation. Nach heutigen Schätzungen arbeitete im 17. Jahrhundert ein Drittel aller erwachsenen Eidgenossen als Söldner im Ausland. Wer bis heute auf diesen Service zählt, sind die Päpste. Die Schweizergarde im Vatikan ist eine bis in die Gegenwart sichtbare Erinnerung an diese Epoche.

Der Gotthardtunnel, ein italienisches Bauwerk

Später beeinflussten neue Volksgruppen das Land auf dem Weg dorthin, wo es heute steht. Die liberalen Dissidenten aus Deutschland brachten die Ideen der Aufklärung mit – und verliehen Zürich, das während des Mittelalters im Schatten der Rheinmetropole Basel stand, einen geistigen und wirtschaftlichen Schub.

In jener Zeit wurde unter Mitwirkung Alfred Eschers (1819–1882) die ETH Zürich gegründet und das Schweizerische Eisenbahnnetz ausgebaut. 1880 gipfelte diese Entwicklung in einem Akt mit internationaler Ausstrahlung, dem Bau von Helvetiens Weltwunder, des 15-Kilometer-Eisenbahntunnels durch den Gotthard. Er ist auch ein italienisches Bauwerk. Nur Arbeiter aus dem Süden machten das Monumentalwerk möglich.

Die Eidgenossenschaft avancierte dank der industriellen Revolution und visionärer Unternehmer wie Escher endgültig zum Einwanderungsland. Florierende Textilfabriken entstanden, chemische Industrie und Bauwirtschaft boomten. Das einstige Armenhaus Schweiz entwickelte einen Wohlstand, der ohne zugewanderte Arbeitskräfte nicht erreichbar gewesen wäre.

Frieden seit 1847

Mit der Gründung des Bundesstaats 1848 wurden Verfassung, Gewaltenteilung, direkte Demokratie und Parlament etabliert. Auch dieses bis heute herrschende politische System ist ein monumentales Integrationsprojekt, erfolgreich vor allem in der Verschränkung der vier Sprachregionen. Der italienischsprachige Teil südlich der Alpen, die republikanisch-burgundisch geprägte Westschweiz, die alemannische Deutschschweiz und die romanischsprachigen Täler Graubündens unter einem gemeinsamen Dach – heute «Role Model» vieler multiethnischer Regionen der Welt.

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Integriert wurden auch die Konfessionen. Bis dahin war es immer wieder zu bürgerkriegsähnlichen Spannungen zwischen katholischen und protestantischen Gebieten gekommen. Auch der Dreissigjährige Krieg hatte Ausläufer bis in die Eidgenossenschaft; das letzte Gefecht auf Schweizer Boden, der Sonderbundskrieg, fand 1847 statt. Seitdem herrscht Frieden zwischen Genfer- und Bodensee. Die Katholiken wurden ins politische System eingebunden, sie erhielten mit der CVP, der späteren Mitte, eine politische Heimat und die Beteiligung im Bundesrat. Nur die Gleichstellung des Judentums verlief nicht diskriminierungsfrei, sinnbildlich erkennbar an der Initiative für ein Schächtverbot 1887, die von antisemitischen Nebengeräuschen begleitet war.

Die Städte im Griff der Linken

Auch Stadt und Land mussten sich zusammenraufen. Diese Kluft mag weniger sichtbar sein als der Röstigraben, ist aber ebenso prägend. Eine Episode, die den Konflikt anschaulich illustriert: Das deutsche Konstanz wollte sich im 15. Jahrhundert der alten Eidgenossenschaft anschliessen, doch die Mehrheit der Stände lehnte ab. Eigentlich war dies eine ökonomisch und politisch irrationale Entscheidung – doch die bäuerlichen Gebiete fürchteten sich nun mal vor einer Übermacht der urbanen Bevölkerung.

Heute sind die Städte pulsierende Kraftzentren, die einen stattlichen Teil der Volkswirtschaft tragen. Die Linke hält sie politisch fest im Griff und benutzt sie als Experimentierfeld für ihre progressiven Ideen. Deren neu gebildete Machtkartelle halten sich mit einem ausgeklügelten System von Subventionen und Privilegien für die eigene Klientel. Zwar sind die mittelalterlichen Stadtmauern längst abgerissen. Dafür halten diverse Hürden von Spur- über Parkplatzabbau bis Tempo 20 die autofahrende Peripherie in Schach.

Vom Arbeiterzentrum zur Partymeile

Auch die Zuwanderer aus dem Süden brachten politische Ideen mit. Heute ist die Zürcher Langstrasse eine Partymeile für die Jugend aus der Agglo. Früher war das Quartier Zentrum der italienischen Arbeiterbewegung in der Schweiz. Die Entstehung der Gewerkschaften und der linken Parteien ist ohne den Impuls aus Italien undenkbar. Integriert wurden auch alle grossen politischen Strömungen. Der Einzug der Sozialdemokratie in den Bundesrat 1943 wurde dafür zum wichtigen Meilenstein.

Vor allem dieser Entwicklung verdankt die Schweiz ihren sozialen Frieden; Arbeitgeber und Arbeitnehmer verständigen sich am Verhandlungstisch, hier legen keine Streiks das Land lahm wie in Deutschland oder Frankreich. Was wiederum die Attraktivität des Standorts steigert. Ergebnis: Das Lohnniveau ist höher als im Umland – und der Zuwanderungsdruck nimmt stetig zu.

Unterdurchschnittliches BIP-Wachstum

26 Prozent der ständigen Wohnbevölkerung waren im Jahr 2022 Ausländer. Diese Quote wird in Europa nur von Luxemburg übertroffen. Mit anderen Worten: Jeder Vierte im Land besitzt keinen Schweizer Pass, bringt also kulturell einen diversen Hintergrund mit – nicht zu vergessen die Eingebürgerten, Eingewanderte oder Nachfahren von Eingewanderten, die den roten Pass erworben haben. Allerdings fehlt ein Integrationsmythos wie in der Neuen Welt: es gibt hierzulande keinen «Swiss Dream» analog zum «American Dream» in den USA.

Stattdessen häufen sich die Herausforderungen für die kleine Nation. Kein Wunder, wird Migration in erster Linie mit Nachteilen in Verbindung gebracht. Und die Befürworter haben derzeit schlechte Argumente – das Wirtschaftswachstum fällt dieses Jahr unterdurchschnittlich aus. Der üppig tragende Apfelbaum der Economiesuisse-Kampagne, der Prosperität dank Personenfreizügigkeit symbolisieren soll, scheint verdorrt.

SVP-Kampagne gegen Zehn-Millionen-Schweiz

Jedes Jahr wandern netto rund 100'000 Menschen ein. Womit die Schweiz jährlich etwa um eine Stadtbevölkerung von der Dimension Winterthurs ZH wächst.Mit bekannten Folgen: Grund und Boden sind knapp, im vergangenen Jahrzehnt explodierten Immobilien- und Mietpreise. Hohe Sozialkosten, Dichtestress und Angst vor Identitätsverlust bestimmen die Sorgen weiter Teile der Bevölkerung. Dazu kommt die Einwanderung aus nicht-europäischen, islamisch geprägten Regionen, was die Integration in Gesellschaft, Kultur und Schule erschwert und verteuert.

Und doch – für Sektoren wie das Gesundheitswesen oder den Tourismus ist die Arbeitskraft von Ausländern unverzichtbar. Ohne billige Hilfskräfte aus der EU und aus Drittstaaten würden diese Wirtschaftszweige schlicht zusammenbrechen. Zugleich verlangt die Bevölkerung von der Politik Antworten auf die damit verbundene Herausforderung. Letzten Herbst gewann die SVP mit dem Slogan gegen eine Zehn-Millionen-Schweiz die Wahlen («Es kommen zu viele und es kommen die Falschen»).

Wird die Personenfreizügigkeit dem Druck standhalten?

Alle Beobachter sind sich einig: Das Thema Migration wird die politische Agenda langfristig bestimmen – eine der grossen Fragen lautet, wie sich dies auf das Verhältnis zu Europa auswirkt. Wird die Personenfreizügigkeit dem steigenden Druck standhalten? Mit den Gewerkschaften hat die SVP, deren «Nachhaltigkeits-Initiative» für die eigenständige Regelung der Migration am Horizont lauert, einen neuen, mächtigen Verbündeten.

Wirtschaftsverbände mobilisieren bereits gegen das Vorhaben. Was dies zusätzlich erschwert, sind die Folgen des Asylwesens. Zwar erreicht die Flüchtlingswelle noch nicht das Niveau von 2015. Doch die Tendenz ist steigend, die Zahl der unbehandelten Fälle hoch.

Steigende Kriminalität

Auch die Schweizerische Kriminalitätsstatistik zeichnet kein schönes Bild der Entwicklung: Ladendiebstähle nahmen letztes Jahr um 23 Prozent zu, Autodiebstähle und schwere Gewalttaten erreichten neue Höchststände.

Und anders als früher wird heute offen über die Täterschaften geredet: Einen grossen Teil der Straftaten begehen Ausländer und abgewiesene Asylsuchende. Bund und Kantone stehen unter Zugzwang – wie soll man der Bevölkerung den Courant normal vermitteln, wenn täglich 1431 Straftaten registriert werden?

Die Nennung der Täter-Nationalitäten ist ein erstes Zeichen, dass sich das Bewusstsein im Lande ändert. Der Zürcher Sicherheitsdirektor Mario Fehr (65) brachte es am Montag auf den Punkt: «Es ist wichtig zu sagen, wer diese Delikte begangen hat. Weil man nur so eine Chance hat, etwas dagegen zu unternehmen.» Die Öffentlichkeit drängt im Migrationsbereich auf Transparenz: SVP-Nationalrätin Barbara Steinemann (47) verlangt in einem Postulat, dass der Bund die Asylgründe der Flüchtlinge publik macht. Unterstützt wird der Vorstoss von einer breiten Allianz aus SVPlern, Mitte und Freisinnigen.

«La Suisse n'existe pas»

Die Schweiz ist ein Modell für den Erfolg von Integration. Doch es steht unter Druck, vielleicht stärker als nach den Weltkriegen. Sind die Tage dieses Bollwerks der guten Laune gezählt?

Noch vor kurzem hätten Intellektuelle die Gegenfrage gestellt: Besitzt die Eidgenossenschaft überhaupt eine Identität – oder handelt es sich da lediglich um ein künstliches Gebilde, um die viel beschworene «Willensnation», die sich auf Mythen wie Wilhelm Tell, die Alpenfestung oder Schokolade reduzieren lässt? 1992 verdichtete der Künstler Ben Vautier (88) diese Analyse auf den Satz, der den Schweizer Pavillon der Weltausstellung in Sevilla (Spanien) zierte: «La Suisse n’existe pas», die Schweiz gibt es nicht.

Neue Ideen sind gefragt

Für Migrationskritiker wirkt der Spruch – natürlich eine künstlerische Provokation – heute fast wie eine Drohung. Dabei gehörten solche Gedankenspielereien im links-progressiven Bildungsmilieu lange zum Repertoire.

Tempi passati. Die Geschichte des Einwanderungslands Schweiz könnte eines Tages einen anderen Verlauf nehmen.
Von der Politik sind neue Ideen gefragt. Denn Probleme und Herausforderungen machen nie Pause. Auch nicht an Ostern.

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