Gesundheitskosten im Vergleich mit dem Ausland
Das macht die Schweiz falsch

Unser Land finanziert die Gesundheit mit Abstand am asozialsten. Der Blick ins Ausland zeigt noch anderes.
Publiziert: 18.05.2024 um 17:19 Uhr
|
Aktualisiert: 05.06.2024 um 11:04 Uhr
gian_signorell.jpg
yves_demuth_1.jpg
Gian Signorell und Yves Demuth
Beobachter

In den sozialen Medien fliegen derzeit die Fetzen, wenn es um die Gesundheitskosten geht. «Die Initiative ist ein Überfall auf unser Gesundheitswesen!», sagt der Präsident der Hausärztinnen und Hausärzte. «Die Angstmacherei des Kartells beginnt», gibt Mitte-Präsident Gerhard Pfister zurück.

Artikel aus dem «Beobachter»

Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.

Probieren Sie die Mobile-App aus!

Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.

Probieren Sie die Mobile-App aus!

Der Schlagabtausch auf dem Kurznachrichtendienst X zeigt: Die Gesundheitsbranche ist nervös. Grund dafür sind zwei Volksinitiativen von SP und Mitte-Partei, die etwas fordern, das es im Ausland bereits gibt: eine sozialere Finanzierung der Krankenkassenprämien (Prämienbremse). Und eine Formel, die den jährlichen Prämienanstieg begrenzt (Kostenbremse). Abgestimmt wird am 9. Juni.

Die Niederlande als Vorbild?

Der Beobachter hat vor diesem Hintergrund sechs Fachleute gefragt, welche Länder der Schweiz als Vorbild dienen könnten, um Prämien und Kosten in den Griff zu bekommen. Eine oft gehörte Antwort war: Schaut in die Niederlande.

Die Schweizer Bevölkerung trägt 54 Prozent der Gesundheitskosten selbst, unabhängig vom Einkommen. Das ist mit Abstand der höchste Wert aller Industrieländer.
Foto: Keystone
1/8

In der Schweiz belasten die steigenden Prämien zunehmend auch den Mittelstand stark. Das sagt der Bundesrat. Die SP will die Prämienlast deshalb auf zehn Prozent des verfügbaren Einkommens begrenzen. Das würde zwischen zwei und fünf Milliarden Franken pro Jahr kosten.

«Eine Steuer, die keine Grenzen hat»

Die Krankenkassen-Kopfprämien wirken wie eine Steuer, die es so nirgends im Ausland gebe, sagte Gewerkschaftspräsident Pierre-Yves Maillard kürzlich vor den Medien. Eine Steuer, die jedes Jahr ansteige, ohne dass darüber abgestimmt werden kann. «Eine Steuer, die keine Grenzen hat.»

Die Mitte will hingegen nicht die Prämien begrenzen, sondern die Kosten. Mit ihrer Kostenbremse-Initiative hat die Partei die vereinigte Front von Ärztinnen, Apothekern und Spitälern derart aufgeschreckt, dass diese Horrorszenarien verbreitet. Szenarien, die in Ländern mit einer Kostenbremse, wie etwa den Niederlanden, so bisher nicht eingetreten sind.

Schweiz mit grossem Abstand vor Litauen

Gesundheitsökonom Tobias Müller ist überrascht, als er die Zahlenreihe sieht. Die Rangliste der Industrieländerorganisation OECD besagt: Die Schweizer Bevölkerung trägt 54 Prozent der Gesundheitskosten selbst, unabhängig vom Einkommen. Das ist mit Abstand der höchste Wert aller Industrieländer. Auf Rang zwei folgt Litauen mit 30 Prozent. In vergleichbaren Ländern wie den Niederlanden, Deutschland oder Dänemark müssen die Leute einkommensunabhängig höchstens halb so viel zahlen.

Hat die Schweiz das asozialste Finanzierungssystem? Tobias Müller sagt: «Die Schweiz setzt deutlich weniger auf Solidarität als das Ausland.» Der grösste Kostenblock werde den Leuten weiterverrechnet, unabhängig von ihrem Einkommen, betont der Professor an der Berner Fachhochschule. Die Folge: Die Schweizer Haushalte zahlen netto jährlich 27,8 Milliarden Franken allein für die obligatorischen Prämien. Die Prämienverbilligungen sind davon schon abgezogen. Dazu zahlen Haushalte noch 19,7 Milliarden Franken aus dem eigenen Sack für Kostenbeteiligungen wie den Selbstbehalt.

Niederlande: Kinder sind gratis

Auch in Deutschland oder Frankreich müssten die Leute zwar Prämien zahlen für eine obligatorische Krankenpflegeversicherung, sagt Müller. «Doch dort werden die Prämien abhängig vom Einkommen gezahlt.»

Externe Inhalte
Möchtest du diesen ergänzenden Inhalt (Tweet, Instagram etc.) sehen? Falls du damit einverstanden bist, dass Cookies gesetzt und dadurch Daten an externe Anbieter übermittelt werden, kannst du alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen lassen.

In den Niederlanden gibt es ebenfalls eine obligatorische Grundversicherung. Für Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre zahlt man allerdings nichts. Die Erwachsenen zahlen eine Kopfprämie von derzeit durchschnittlich 146 Euro pro Monat. Das wären 143 Franken. Diese Kopfprämie steigt ebenfalls jedes Jahr an, zuletzt um 8.50 Euro pro Monat. Was ebenfalls ähnlich ist: Die Krankenkasse und die Franchise (100 bis 500 Euro) kann man wählen, die Prämien variieren stark, einen Selbstbehalt gibt es auch. 

Drei Säulen stützen besser als zwei

Der grosse Unterschied zur Schweiz: Neben der Kopfprämie gibt es in den Niederlanden einkommensabhängige Beiträge. Die Steuerbehörde leitet 5,32 Prozent des Nettoeinkommens (bis 71’624 Euro) von Rentnerinnen oder Selbständigen an die Krankenkasse weiter. Bei Angestellten muss der Arbeitgeber 6,57 Prozent des Lohns (bis 71’624 Euro) direkt der Krankenkasse überweisen.

Zudem zahlt die Regierung die Beiträge der unter 18-Jährigen aus Steuergeld. Die Niederlande haben also ein Drei-Säulen-Finanzierungsmodell, während die Schweiz nur zwei Säulen kennt: die Kopfprämie und die Verbilligung.

Wer weniger hat, muss im Verhältnis mehr bezahlen

Tobias Müller spricht darum von einer regressiven Finanzierung der Gesundheitskosten. Das bedeutet: Im Verhältnis werden jene am stärksten belastet, die am wenigsten verdienen.

«Für die Ärmsten gibt es zwar eine Prämienverbilligung», sagt Müller. Doch das sei am Ende Pflästerlipolitik. «In der Schweiz herrscht der Grundsatz, dass Gesundheit eigentlich Privatsache ist.» Und das habe Folgen: «Für alle, die etwas zu reich sind für Prämienverbilligungen, ist dieses System eine grosse Belastung. Der Mittelstand leidet.» 

«Das ist nicht asozial»

SVP-Gesundheitspolitiker Thomas de Courten sieht das ganz anders: «Die Finanzierung der Gesundheitskosten ist in der Schweiz nicht asozial.» Es sei richtig, dass nicht nur die Allgemeinheit, sondern auch die Haushalte zahlen müssten. «Das stärkt die Eigenverantwortung. Wen es im Portemonnaie schmerzt, der hilft eher beim Sparen», sagt der Baselbieter Nationalrat. Die OECD-Zahlen würden zudem nicht zeigen, wie gut die Qualität in der Schweiz sei und wie schnell man hierzulande einen Operationstermin erhalte. «Wir haben ein hervorragendes System, und das hat seinen Preis.»

De Courten räumt zwar ein: «Die Gesundheitskosten für die Haushalte sind massiv gestiegen. Und das ist ein Problem.» Doch die Kosten für die Allgemeinheit seien noch stärker gestiegen. «Einen grossen Teil des Kostenwachstums hat der Staat aufgefangen.» Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen tatsächlich, dass der Staat heute dreimal so viel für Gesundheit ausgibt wie 1996. Die Haushalte zahlen hingegen «nur» zweieinhalbmal so viel. Allerdings sind die Löhne in dieser Zeit unter dem Strich nur um 13 Prozent gestiegen. Das Bruttoinlandprodukt, das der Staat besteuern kann, ist hingegen um 87 Prozent gewachsen.

Bundesrat bricht Versprechen

Dazu kommt ein gebrochenes Versprechen: Vor der Einführung der obligatorischen Krankenpflegeversicherung 1996 versprach der Bundesrat, dass «kein Haushalt mehr als 8 Prozent seines steuerbaren Einkommens für Prämien aufzubringen» habe. «Sind die Prämien höher, wird die Differenz durch Beiträge der öffentlichen Hand zurückvergütet.» Heute sind es jedoch im Mittel bereits 9 Prozent. Mit grossen Unterschieden: Eine Neuenburgerin muss im Schnitt 15 Prozent ihres Einkommens für Krankenkassenprämien ausgeben, ein Zuger nur 4 Prozent. Denn der Bund stellt zwar automatisch immer mehr Geld für die Verbilligung bereit, doch viele Kantone kneifen. 

Externe Inhalte
Möchtest du diesen ergänzenden Inhalt (Tweet, Instagram etc.) sehen? Falls du damit einverstanden bist, dass Cookies gesetzt und dadurch Daten an externe Anbieter übermittelt werden, kannst du alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen lassen.

Das findet auch SVP-Nationalrat Thomas de Courten nicht gut. Er unterstützt deshalb einen indirekten Gegenvorschlag zur Initiative. «Der Gegenvorschlag sorgt dafür, dass die Kantone stärker in die Pflicht genommen werden.» Aber sind 360 Millionen Franken mehr für die Prämienverbilligung nicht bloss ein Tropfen auf den heissen Stein? «360 Millionen Franken sind ein ziemlicher Batzen Geld», sagt de Courten. 

Eine emotional geführte Kampagne

Das junge Mädchen liegt mit schmerzverzerrtem Gesicht im Bett. Darüber fragen grosse Lettern: «Kranke warten lassen?» Mit diesem aufwühlenden Bild wirbt das Abstimmungskomitee für ein Nein zur Kostenbremse-Initiative der Mitte. Dann prasseln im Text emotional aufgeladene Wörter auf die Lesenden nieder. «Gefährlich» sei die Initiative, «Rationierung» von medizinisch nötigen Behandlungen drohe, gar eine «Zweiklassenmedizin». 

Stimmt das? Die Initiative verpflichtet den Bund, in der obligatorischen Krankenversicherung eine Kostenbremse einzuführen. Er muss zusammen mit den Kantonen, den Krankenkassen und den Erbringern von medizinischen Leistungen dafür sorgen, dass die Kosten nicht viel stärker wachsen als die durchschnittlichen Löhne und als die Gesamtwirtschaft. Die Kostenbremse hätte letztendlich den Effekt, dass nicht mehr unbeschränkt Geld zur Verfügung steht. 

Fixe Budgets sind im Ausland üblich

Aus Sicht der Gegnerinnen und Gegner der Initiative führt das notwendigerweise zu einer Verschlechterung der medizinischen Versorgung.

Der Blick ins Ausland zeigt allerdings, dass beschränkte finanzielle Ressourcen bei der Gesundheitsversorgung eher die Regel denn die Ausnahme sind. «Fixe Budgets mit einem Kostendeckel sind in allen Ländern mit einem vorwiegend steuerfinanzierten Gesundheitssystem üblich. Es gibt wenig Evidenz für Unterversorgung in diesen Ländern», sagt der Berner Gesundheitsökonom Tobias Müller. Die Warnung vor einer Rationierung hält er deshalb für übertrieben. 

Wo man keine Krankenkasse braucht

Ein weitgehend steuerfinanziertes Gesundheitswesen bezeichnen Forscher als Beveridge-System, nach seinem Begründer, dem britischen Ökonomen William Beveridge. In Beveridge-Ländern müssen die Leute keine Krankenversicherung abschliessen. Sie haben durch ihre Steuerzahlungen unabhängig von medizinischem Risiko oder finanzieller Leistungsfähigkeit Zugang zu allen Gesundheitsleistungen. Nach diesem Modell funktionieren die skandinavischen Länder, Grossbritannien, Commonwealth-Nationen wie Australien, Kanada und Neuseeland sowie Spanien, Portugal und Griechenland. 

Nur Japaner leben länger als Schweizer

Um zu beurteilen, wie gut das Gesundheitssystem eines Landes funktioniert, ist die Lebenserwartung ein wichtiger Indikator. Viele Beveridge-Länder wie Australien, Spanien, Norwegen oder Schweden landen hier gemäss OECD auf den vorderen Rängen. Griechenland liegt knapp unter dem OECD-Durchschnitt, Grossbritannien knapp darüber, etwa gleichauf mit Deutschland. Spitzenreiter bei der Lebenserwartung ist Japan, dicht gefolgt von der Schweiz. 

Die Schweiz gehört zu den sogenannten Bismarck-Ländern, benannt nach dem deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck. Er führte im 19. Jahrhundert eine gesetzliche Krankenkasse ein. Statt vorwiegend aus den Steuertöpfen kommt das Geld bei diesem Modell aus einer obligatorischen Sozialversicherung. Neben Deutschland und der Schweiz funktionieren etwa die Niederlande, Österreich, Frankreich und die USA nach diesem Modell. 

Steuerfinanzierte Gesundheitssysteme sind günstiger

Steuerfinanzierte Beveridge- und Bismarck-Modelle unterscheiden sich in einem entscheidenden Punkt: Bismarck-Modelle ohne feste Budgets weisen grundsätzlich höhere Kosten aus. Für den deutschen Gesundheitsökonomen Reinhard Busse liegt das am Umstand, dass in Bismarck-Ländern die Beziehung zwischen Ärztinnen, Spitälern und den Versicherten durch Verträge geregelt ist. «Das erschwert die Kostendämpfung enorm.» 

Für das Bundesamt für Gesundheit hat Reinhard Busse die Erfahrungen der Sparbemühungen aus Deutschland zusammengetragen. Sein Fazit: «Kostendämpfung funktioniert nur auf der grossen Makroebene, wenn sie von einer zentralen Stelle verordnet werden kann.» 

Die «nukleare Option»

Schweizer Gesundheitsökonomen verweisen gern auf die Niederlande. Nach einem massiven Kostenanstieg nach der Jahrtausendwende haben auch die Niederländer ein Budgetinstrument entwickelt, das es der Regierung erlaubt, bei einer Überschreitung der Ausgabenziele nachträglich die Tarife aller Leistungserbringer zu kürzen. In einem Expertenbericht des Bundesamts für Gesundheit wird das wegen der Radikalität als «nukleare Option» bezeichnet. Sie wurde auch nie eingesetzt. Allein die Drohung habe gereicht. «Das Instrument trug entscheidend zur Abflachung des Kostenwachstums bei», heisst es im Bericht. 

Am meisten Knieprothesen in der Schweiz

Neben grösseren Schwierigkeiten bei der Kostendämpfung befördern Bismarck-Systeme wie in der Schweiz auch Überbehandlungen durch Fehlanreize. Das sind Behandlungen, die medizinisch unnötig sind. Innerhalb der OECD werden in drei Bismarck-Ländern am meisten künstliche Kniegelenke eingesetzt: Schweiz, Deutschland und Österreich.

Das Problem zeigt sich aber auch in vielen anderen Bereichen. «Es gibt wenige Länder, wo mehr routinemässige Laboruntersuchungen durchgeführt werden, weniger Generika verschrieben und mehr Röntgenbilder gemacht werden als in der Schweiz», so Gesundheitsökonom Müller.

Der Preisüberwacher Stefan Meierhans schätzt, dass unnötige Behandlungen und Ineffizienzen für 80 Prozent des Kostenwachstums verantwortlich sind. Man könne acht Milliarden Franken sparen – bei gleichbleibender Qualität. Meierhans fordert deshalb ein Makro-Budget-Instrument ganz ähnlich demjenigen in den Niederlanden. «Ich verweise auf die Empfehlungen der Expertengruppe von 2017, die verbindliche Kostenziele und Massnahmen zulasten der Leistungserbringer beinhalten, zum Beispiel Tarifsenkungen.»

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?