Mobilitäts-Professor Vincent Kaufmann über den Verkehr der Zukunft
«Tempo 60 auf Autobahnen ist sinnvoll»

Fehlt es der Bundesregierung an Visionen für die Zukunft der Mobilität? Vincent Kaufmann (54), Professor für Stadtsoziologie und Mobilitätsanalyse an der EPFL, hat Lösungen.
Publiziert: 19.05.2023 um 10:33 Uhr
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Aktualisiert: 19.05.2023 um 13:20 Uhr
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Amit Juillard

Düstere Zeiten für den öffentlichen Verkehr und die Umwelt. Der Bundesrat will die Autobahn A1 auf den Streckenabschnitten Bern–Zürich und Lausanne–Genf auf mindestens sechs Spuren ausbauen. Zudem laufen mehrere Westschweizer Städte Sturm gegen den kürzlich vorgestellten SBB-Fahrplanentwurf 2025.

Vincent Kaufmann (54), Professor für Stadtsoziologie und Mobilitätsanalyse an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL), präsentiert im Interview mit Blick Lösungen.

Blick: Herr Kaufmann, es winkt die 10-Millionen-Schweiz. Staus und vollgestopfte Züge – ist das unsere Zukunft?
Vincent Kaufmann: Leider ja – zumindest in der Westschweiz.

Ist für Tempo 60 auf Schweizer Autobahnen: Verkehrsexperte Vincent Kaufmann von der EPFL.
Foto: KEYSTONE/EFPL
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Warum ist das so?
Überall im Bahnbereich kommt es zu Bauverzögerungen und das Netz stösst an seine Kapazitätsgrenzen.

Was sind die Folgen?
Um die Pünktlichkeit zu verbessern, wird auf der Strecke Lausanne-Genf jede Stunde ein Zug gestrichen.

All das könnte die Leute davon abhalten, den Zug zu nehmen.
Richtig. Ein Teil der Bevölkerung will sich nicht mit dem Auto fortbewegen, nun bleiben Züge aus. Das ist sehr problematisch.

Weder die SBB noch der Bundesrat scheinen bisher in der Lage gewesen zu sein, den Anstieg der Verkehrsströme zu antizipieren.
Es ist verrückt! Im Jahr 2015 unterzeichnete die Schweiz das Pariser Abkommen, in dem ein Ziel festgelegt wurde: die CO2-Neutralität bis 2050. In den vergangenen acht Jahren hat sich nichts getan. Ich beschäftige mich seit Jahren mit diesen Themen. Diese Situation ist äusserst problematisch – und macht mich wütend.

Zur Person

Vincent Kaufmann (58), geboren in Genf, ist Wissenschaftler mit den Schwerpunkten Mobilitätsstudien und Stadtsoziologie. Er ist Professor für Soziologie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) und Leiter des Labors für Stadtsoziologie an der Fakultät für Architektur, Bau- und Umweltingenieurwesen.

Vincent Kaufmann (58), geboren in Genf, ist Wissenschaftler mit den Schwerpunkten Mobilitätsstudien und Stadtsoziologie. Er ist Professor für Soziologie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) und Leiter des Labors für Stadtsoziologie an der Fakultät für Architektur, Bau- und Umweltingenieurwesen.

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Warum wird nichts unternommen?
Weil das Pariser Abkommen nicht ernst genommen wird. Das gilt für alle westlichen Länder. Es herrscht ein enormer Zynismus.

Was müsste heute getan werden, damit das Leben für Pendlerinnen und Autofahrer nicht zur Hölle wird?
Homeoffice. Es könnte noch besser gefördert werden.

Also doch das Strassennetz ausbauen, wie es Verkehrsminister Albert Rösti (55) vorschlägt?
Auf keinen Fall! Das würde zu neuen Verkehrsströmen führen. Es ist bekannt, dass ein Teil des Verkehrs verschwindet, wenn man die Kapazität eines Strassenabschnitts reduziert. Mein Vorschlag wäre, die Geschwindigkeiten auf den Autobahnen zu senken.

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Wie soll das gehen?
Damit könnten wir den Verkehr flüssiger machen. Und die Menschen dazu bringen, in ihrem Alltag weniger weit zu fahren – etwa zur Arbeit. Wenn wir heute wirklich schnell sein wollen, müssen wir uns nur in den Computer einloggen, um in die Ferne zu kommunizieren.

Das würde die Leute dazu bringen, weniger zu reisen?
Wir haben herausgefunden, dass die maximale Kapazität auf einer Autobahn bei 60 km/h erreicht wird. Bei 60 km/h würde die Strecke Genf-Lausanne eine Stunde und zehn Minuten dauern statt 45 Minuten. Eine Senkung der zulässigen Geschwindigkeit auf der Autobahn auf 60 km/h würde also dazu führen, dass die Menschen im Alltag weniger fahren würden.

Was ist mit dem Zug?
Was den Zug betrifft, bin ich etwas differenzierter. Manchmal braucht man schnelle Verkehrsmittel. Man könnte etwa über differenzierte Abonnementspreise nachdenken. Fernzüge könnten mehr kosten als Regionalzüge.

Aber irgendwann muss man das Schienennetz trotzdem ausbauen.
Ja, aber das kann nicht 30 Jahre dauern!

Sind Sie dafür, dass Reisen auf dem Schienennetz gratis wird?
Wir haben uns gefragt, wie stark die Preise für öffentliche Verkehrsmittel gesenkt werden müssten, damit Autofahrer auf das Auto verzichten. In Wirklichkeit ändert sich nichts, wenn Bahnreisen gratis sind. Man müsste die Autofahrerinnen und -fahrer bezahlen, damit sie auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen!

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