«Das ist eine Missachtung des Volkswillens!»
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Ausschaffung von Kriminellen:«Das ist eine Missachtung des Volkswillens!»

Nur 58 Prozent der Kriminellen werden ausgeschafft
«Das ist eine Missachtung des Volkswillens!»

Erstmals liefert der Bund genaue Zahlen, wie viele kriminelle Ausländer einen Landesverweis kassieren. Das Ergebnis empört nicht nur die Rechten. Nun steht eine Verschärfung der Härtefallklausel zur Diskussion.
Publiziert: 20.07.2020 um 23:22 Uhr
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Aktualisiert: 04.05.2021 um 16:35 Uhr
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Lea Hartmann und Sermîn Faki

Seit der Ablehnung der Durchsetzungs-Initiative stellt die SVP dem Bundesrat in jeder Session die gleiche Frage: Wie viele kriminelle Ausländer werden ausgeschafft? Die Antwort des Bundesrats war bislang immer dieselbe: Das kann man nicht sagen, weil es keine verlässliche Statistik dazu gibt.

Nun, vier Jahre und 13-mal Fragen später, bekommt die Partei erstmals eine Antwort. 58 Prozent der kriminellen Ausländerinnen und Ausländer werden des Landes verwiesen. Bei dem Rest kommt die sogenannte Härtefallklausel zum Tragen. Das heisst: Gut vier von zehn kriminellen Ausländern können in der Schweiz bleiben – obwohl sie wegen einer Straftat verurteilt wurden, die eigentlich einen Landesverweis nach sich zieht. Zu diesem Schluss kommt eine Untersuchung des Bundesamts für Statistik.

«Das ist Rechtsmissbrauch»

Die Zahl bringt die SVP in Rage. Der Zürcher SVP-Nationalrat Gregor Rutz (47) spricht im «Tages-Anzeiger» von einem «Rechtsmissbrauch» und kündigt an, einen Vorstoss zur Abschaffung der Härtefallklausel einzureichen. Einen weiteren. Bereits 2018 hatte er die Abschaffung gefordert und ist damit gescheitert.

Rutz hatte zuvorderst für eine konsequente Umsetzung der Ausschaffungs-Initiative gekämpft, die 2010 vom Volk knapp angenommen worden war. Doch die SVP biss im Parlament auf Granit. Eine Mehrheit bestand darauf, dass es aus rechtsstaatlichen Gründen Ausnahmen von der Ausschaffungsregel geben müsse. Aber sie hatte auch versprochen, dass nicht mehr als fünf Prozent von der Härtefallregel profitieren würden.

Ausnahmen sind die Regel

In der Realität sind diese Ausnahmen allerdings fast schon die Regel. Das zeigt nicht erst die Statistik, die jetzt veröffentlicht worden ist. Schon 2018 wurden erstmals Zahlen zur Ausschaffungspraxis krimineller Ausländer veröffentlicht. Dabei lösten die Bundesstatistiker aber ein Zahlenchaos aus. War erst von einer Ausschaffungsquote von 54 Prozent die Rede, waren es plötzlich 69 Prozent. Ursache fürs Wirrwarr war, dass zu wenige detaillierte Statistiken zur Verfügung standen.

Das ist jetzt anders. 2019 haben die Behörden die für Landesverweise relevanten Straftaten erstmals ganz genau erfasst. Die Zahlen zeigen, dass die Ausschaffungsquote umso tiefer ausfällt, je weniger schwer ein Delikt ist. Doch auch Sozialhilfemissbrauch oder ein Einbruchdiebstahl hat laut Verfassung eigentlich eine Ausschaffung zur Folge.

Jositsch: «Ich verstehe die SVP»

Nicht nur bei der SVP sorgen die Zahlen für Unmut, sondern auch bei denjenigen, die einst für die Härtefallklausel gekämpft haben. FDP-Präsidentin Petra Gössi (44) sagt: «Ich bin froh, dass es die Härtefallklausel gibt. Wenn aber deswegen mehr als 40 Prozent der verurteilten Ausländer das Land nicht verlassen müssen, entspricht das klar nicht Sinn und Zweck der Sache.»

Dieser Meinung ist auch SP-Ständerat Daniel Jositsch (55). «Ich verstehe die SVP», sagt er. «Ich habe immer gesagt: Es muss Ausnahmen geben. Aber die Ausnahmen können nicht fast die Hälfte der Fälle ausmachen!»

Die Gerichte seien schuld

Jositsch räumt ein, dass man die Durchsetzungs-Initiative 2016 nur habe bodigen können, weil man den Stimmbürgern versprach, dass Härtefälle die Ausnahme blieben. Angesichts der Zahlen, die jetzt bekannt werden, werde ihm unwohl. «Das ist eine Missachtung des Volkswillens», sagt der SPler.

Im Gegensatz zur SVP ist für Jositsch wie auch Gössi am Missstand allerdings nicht das Parlament schuld, sondern die Justiz. «Die Richter treten den Willen des Volkes mit Füssen», sagt die FDP-Präsidentin.

Parlament machte ersten Schritt

Das Parlament indes hat bereits einen ersten Schritt unternommen, um die Schrauben anzuziehen. Schon 2018 forderte die FDP, dass Staatsanwälte nicht mehr in Eigenregie Härtefälle beschliessen können, sondern nur Gerichte. Dafür sollen Kriminaltouristen ohne Gerichtsentscheid des Landes verwiesen werden können. Das Parlament hat den Vorschlag deutlich angenommen.

Aus Sicht von FDP-Ständerat Andrea Caroni ist das der einzig gangbare Weg, um die Ausschaffungsquote zu erhöhen, ohne dabei an rechtsstaatlichen Prinzipien zu ritzen. Wirklich Einzelfälle würden Härtefälle damit aber nicht, gibt er zu. Zwar will Caroni keine Schätzung abgeben, um wie viel Prozent sich die Ausschaffungsquote so erhöhen liesse. Aber er macht klar: Die Zahl wird wohl immer noch tiefer sein, als es die SVP fordert.

Für Gössi führt deshalb nichts daran vorbei, über eine Verschärfung der Härtefallklausel zu diskutieren. «Zu Recht», fügt sie an.

Sind die Staatsanwälte schuld?

Im Sommer 2018 diskutierte die Schweiz schon einmal über zu wenige Ausschaffungen. Für den ehemaligen FDP-Ständerat Philipp Müller (67) war die Sache damals klar: Schuld daran, dass so wenige kriminelle Ausländer die Schweiz verlassen müssen, sind die Staatsanwälte. Denn sie würden viele Verurteilungen per Strafbefehl erledigen – weil es weniger Aufwand verursacht. Und per Strafbefehl dürfen laut Gesetz keine Landesverweise ausgesprochen werden.

Müller wollte das ändern – und reichte einen Vorstoss ein, der verlangte, dass immer ein Strafgericht beurteilen müsse, ob ein Landesverweis angezeigt sei. Das Parlament stimmte dem zu.

Nur: Wie eine Analyse des Bundes zeigt, ist dieser Zusammenhang statistisch sehr klein. So gibt es mehrere Kantone, in denen nur selten zum Strafbefehl gegriffen wird – die aber dennoch eine geringe Ausschaffungsquote haben. Das Bundesamt für Statistik erklärt sich den Zusammenhang viel eher dadurch, dass Strafbefehle nur bei vergleichsweise leichten Straftaten ausgesprochen werden können. Bei diesen Delikten ist viel häufiger ein Härtefall gegeben, weil eine Ausschaffung aus Sicht der Gerichte unverhältnismässig wäre.

Im Sommer 2018 diskutierte die Schweiz schon einmal über zu wenige Ausschaffungen. Für den ehemaligen FDP-Ständerat Philipp Müller (67) war die Sache damals klar: Schuld daran, dass so wenige kriminelle Ausländer die Schweiz verlassen müssen, sind die Staatsanwälte. Denn sie würden viele Verurteilungen per Strafbefehl erledigen – weil es weniger Aufwand verursacht. Und per Strafbefehl dürfen laut Gesetz keine Landesverweise ausgesprochen werden.

Müller wollte das ändern – und reichte einen Vorstoss ein, der verlangte, dass immer ein Strafgericht beurteilen müsse, ob ein Landesverweis angezeigt sei. Das Parlament stimmte dem zu.

Nur: Wie eine Analyse des Bundes zeigt, ist dieser Zusammenhang statistisch sehr klein. So gibt es mehrere Kantone, in denen nur selten zum Strafbefehl gegriffen wird – die aber dennoch eine geringe Ausschaffungsquote haben. Das Bundesamt für Statistik erklärt sich den Zusammenhang viel eher dadurch, dass Strafbefehle nur bei vergleichsweise leichten Straftaten ausgesprochen werden können. Bei diesen Delikten ist viel häufiger ein Härtefall gegeben, weil eine Ausschaffung aus Sicht der Gerichte unverhältnismässig wäre.

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