Palästina-Hilfswerk UNRWA
Cassis will Palästinenser-Hilfswerk weiter unterstützen

Aussenminister Cassis inszeniert sich gerne als scharfer Kritiker der UNRWA. Doch in New York gab er dem Hilfswerk seinen Segen.
Publiziert: 14.07.2024 um 00:01 Uhr
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Aktualisiert: 14.07.2024 um 10:15 Uhr
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Raphael RauchBundeshausredaktor

Aussenminister Ignazio Cassis (63) ist stets für Überraschungen gut. 2018 sagte er, die UNRWA sei «Teil des Problems» im Nahen Osten. Daraufhin zitierte der damalige Bundespräsident Alain Berset (52) Cassis zu sich und gab seinem Bundesratskollegen Nachhilfe in Sachen Nahostkonflikt. Nach dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober drehte Cassis dem Hilfswerk den Geldhahn zu. Begründung: Mitarbeiter der UN-Organisation seien an den Anschlägen beteiligt gewesen.

Wie Blick vor Wochen enthüllte, vertritt das Aussendepartement (EDA) intern eine andere Position: «In Gaza ist die UNRWA die grösste und wichtigste humanitäre Akteurin», steht in einem vertraulichen EDA-Bericht. Ein Stopp der Zahlungen an die UNRWA – etwa im Gesundheits-, Sozial- oder Bildungsbereich – hätte «wahrscheinlich zusätzliche destabilisierende Folgen».

Cassis will UNRWA weiter unterstützen

Diese Position hat sich im EDA inzwischen durchgesetzt, denn sie passt zur humanitären Tradition der Schweiz. Im Vorfeld einer internationalen Geber-Konferenz in New York schloss sich die Schweiz am Freitag einer Erklärung zugunsten der UNRWA an, einem sogenannten Shared Commitment. Insgesamt unterstützen 118 Staaten den Beschluss, darunter alle derzeitigen und künftigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats – sogar die USA, wo Kongressabgeordnete die Zahlungen für das Hilfswerk nach der Hamas-Attacke blockierten.

Aussenminister Cassis gilt als scharfer UNRWA-Kritiker. Doch nun vollzieht er eine Kehrtwende.
Foto: Keystone
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Mit dem Wortlaut dieser gemeinsamen Erklärung verpflichtet sich nun auch Cassis dazu, das Palästinenser-Hilfswerk weiter zu unterstützen. Die UNRWA sei «das Rückgrat aller humanitären Massnahmen im Gazastreifen». Keine andere Organisation habe die Kapazitäten, sie zu ersetzen. Mehr noch: Die von Cassis mitgetragene Erklärung würdigt die UNRWA als «Pfeiler der regionalen Stabilität und als Lebensader der Hoffnung und der Chancen für die Millionen palästinensischer Flüchtlinge».

«Wir leben von der Hand in den Mund»

Das Aussendepartement EDA will sich zu Cassis’ Kehrtwende nicht äussern. «Die UNRWA ist ein zentraler Akteur bei der Reaktion auf die humanitäre Krise in Gaza. Die Empfehlungen aus dem Colonna-Bericht müssen umgesetzt werden», teilt ein Sprecher mit und meint damit einen Bericht der ehemaligen französischen Aussenministerin Catherine Colonna (68). Sie hatte die Terror-Vorwürfe gegen UNRWA-Mitarbeiter untersucht; ihr Bericht entlastete das Hilfswerk teilweise und empfahl Verbesserungen. Eine weitere Untersuchung läuft.

Laut dem Schweizer UNRWA-Chef Philippe Lazzarini (60) reichen die bewilligten Gelder nur noch bis Ende September 2024. «Wir leben von der Hand in den Mund», sagte Lazzarini am Freitag – allerdings sei das Hilfswerk seit mehr als zehn Jahren finanzielle Engpässe gewohnt. Einen Lichtblick erhofft er sich von der neuen Regierung Grossbritanniens, die ebenfalls Zahlungen bewilligen dürfte. Zugleich kritisierte Lazzarini die massive Diskrepanz zwischen dem, «was wir zu leisten haben und den Mitteln, die wir dafür zur Verfügung gestellt bekommen».

Schlagabtausch zwischen Israel und Lazzarini

Im Vorfeld der Geberkonferenz kam es zu einem schriftlichen Schlagabtausch zwischen Israel und dem UNWRA-Chef. Blick liegt der Briefwechsel vor. Darin wirft Jerusalem Lazzarini vor, 108 Mitarbeiter zu beschäftigen, die in der Terrororganisation Hamas aktiv seien. Es handle sich nur um einen Bruchteil von insgesamt Hunderten UNRWA-Mitarbeitern, die sich mutmasslich in der Hamas oder im Palästinensischen Islamischen Dschihad (PIJ) engagierten, einer weiteren Terror-Organisaton.

«Israel erwartet von Ihnen und Ihrer Organisation die sofortige Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses aller Mitglieder der Hamas oder des PIJ», heisst es in dem Schreiben aus Jerusalem. «Deren Arbeit für die UNRWA stellt ein Sicherheitsrisiko für Israel dar und ist ein Verstoss gegen den Grundsatz der Neutralität, wie er im Bericht von Frau Colonna erwähnt wurde.»

Lazzarini kritisiert Israel

Die Angaben lassen sich derzeit nicht unabhängig überprüfen; Israel hat keine Beweise für die Anschuldigungen vorgelegt. Vier Tage nach deren Übermittlung antwortete Lazzarini: «Wie ich den israelischen Behörden in den letzten sechs Monaten mehrfach mitgeteilt habe, ist es von entscheidender Bedeutung, dass die UNRWA Informationen und Beweise erhält. Ich habe Sie im März, April und Mai schriftlich um Beweise für Verstösse von UNRWA-Mitarbeitern gegen die UNRWA-Neutralitätspolitik gebeten. Bis heute habe ich keine Antwort erhalten.»

Lazzarini machte die Regierung in Jerusalem zudem für die Zerstörung und Beschädigung von fast 190 UNRWA-Gebäuden im Gazastreifen verantwortlich. Mehr als 197 UNRWA-Mitarbeitende seien bei den Angriffen des israelischen Militärs ums Leben gekommen. In New York machte sich Lazzarini auch dafür stark, dass ausländische Journalisten Zugang zum Gazastreifen erhalten, um der Welt «wahrhaftige Eindrücke von vor Ort» vermitteln zu können.

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