Parlament in Sorge
Wie schlimm sind die EU-Nadelstiche wirklich?

Seit dem Scheitern des Rahmenabkommens zieht die EU die Schraube an: Es gibt keine neuen Abkommen, auslaufende werden nicht erneuert. Das bereitet gerade auch dem Parlament Sorgen. Betrachtet man die einzelnen betroffenen Bereiche, zeigt sich ein differenziertes Bild.
Publiziert: 16.03.2023 um 08:44 Uhr

Die EU setzt Nadelstiche, wo sie nur kann. Seit der Bundesrat im Mai 2021 die Verhandlungen zum Rahmenabkommen abgebrochen hat, zieht Brüssel die Schraube an: Es werden keine neuen Abkommen geschlossen oder auslaufende erneuert.

Dennoch zeigt der Bundesrat keine Eile, sich erneut an den Verhandlungstisch zu setzen. Am Mittwoch haben sich nun erstmals wieder Aussenminister Ignazio Cassis (61) und EU-Kommissar Maros Sefcovic (56) zu Gesprächen in Bern getroffen.

Der Stillstand macht Kantonen und Parlament Sorgen. Am Donnerstag berät der Ständerat eine Motion, die den Bundesrat gegen dessen Willen auffordert, vorab Verhandlungen zur Teilnahme an EU-Forschungsprogrammen zu führen. Notfalls seien zusätzliche Kohäsionsgelder anzubieten.

Die Schweizer Landesregierung rund um den damaligen Bundespräsidenten Guy Parmelin zog im Mai 2021 die Notbremse.
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Doch ist das tatsächlich nötig? Sind die Nadelstiche der EU so schmerzhaft, dass weitere Zugeständnisse erforderlich werden? Ein Blick auf betroffene Bereiche zeigt ein differenziertes Bild.

Juli 2019: Börsenäquivalenz

Einen ersten Nadelstich hatte die EU 2019 gesetzt: Sie anerkannte die Schweizer Börsenregulierung nicht mehr als gleichwertig. Die Schweizer Börse verlor damit den Zugang zu den europäischen Finanzmärkten.

Der Bund reagierte mit Schutzmassnahmen, damit EU-Firmen trotzdem weiter an der Schweizer Börse handeln können. Die Strafaktion zeigte bisher denn auch kaum Auswirkungen auf den Handel mit Schweizer Aktien.

Mai 2021: Medizinprodukte

Noch am Tag des Verhandlungsabbruchs zum Rahmenabkommen verlor die erste Branche ihren erleichterten Zugang zum EU-Markt: die Medtech-Branche. Per sofort mussten Firmen, die Produkte wie Hörhilfen, Spritzen oder Diagnosegeräte exportieren, nicht nur einen Bevollmächtigten in einem EU-Land vorweisen und die Produkte neu labeln. Neu sind sie auch von einer EU-Prüfstelle zuzulassen.

Das bedeutet höhere Kosten für die Zulassung im wichtigsten Exportmarkt. Dennoch erachtete der Verband Swiss Medtech die Auswirkungen auf die Branche bisher als marginal.

Härter wird die Schweiz beim Import getroffen. Denn für EU-Firmen lohnt sich der Aufwand nicht. Der Schweizer Markt ist zu klein. So soll bereits jedes zehnte importierte Medtech-Produkt fehlen. Spitäler und Einkäufer suchen neue Märkte. Und das scheint zu klappen. Die Branche sagt, die Schweizer Medtech-Industrie werde an Brüssels Nadelstichen nicht zugrunde gehen.

Mai 2021: In-vitro-Diagnostik

Rasch betroffen war auch die In-vitro-Diagnostik-Branche, deren Produktpalette von Blutzuckertests bis zu anspruchsvollen Diagnosen in klinischen Labors reicht. Weil Handelserleichterungen wegfielen, musste die Schweiz neue Regeln einführen. Einen kleinen Erfolg konnte die Branche dennoch erringen: Anders als bei Medtech-Produkten müssen nicht alle aus der EU importierten In-vitro-Diagnostika neu gelabelt werden, sondern nur jene, die von Nicht-Fachleuten angewendet werden.

Juni 2021: Horizon Europe / Erasmus+

Einen hohen Preis zahlt die Wissenschaft. Mit dem Teil-Ausschluss aus dem Forschungsprogramm Horizon fallen nicht nur EU-Gelder weg. Schweizer Hochschulen können auch keine Horizon-Projekte mehr leiten. Forscherinnen und Projekte wandern deshalb in EU-Länder ab.

Eine Umfrage des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) hat ergeben, dass die Teilnehmenden eine Verschlechterung ihrer Situation feststellten. Gerade der eingeschränkte Zugang zu Fördermöglichkeiten und die fehlende internationale Vernetzung würden als nachteilig wahrgenommen.

Das bereitet auch der Wirtschaft Sorgen. Gerade Technologiebranchen seien auf den Wissenstransfer europäischer Hochschulen angewiesen. Der Verband Interpharma schätzt die Kosten des Wegfalls von Horizon Europe auf jährlich zwei Milliarden Franken. Der Bund versucht, das teilweise mit eigenen Fördermitteln zu stoppen.

Gleichzeitig bleibt eine Vollmitgliedschaft beim Austauschprogramm Erasmus+ in weiter Ferne. Für Schweizer Unis wird es schwerer, Studierende in die Schweiz zu locken. Gleichzeitig haben namhafte Universitäten im Ausland die Zusammenarbeit nicht erneuert, womit der Zugang für Schweizer Studierende erschwert wird. Konkrete Zahlen aber kann das SBFI nicht nennen.

April/Mai 2023: Maschinenindustrie

Auch die Maschinenindustrie wird den erleichterten Zugang zum EU-Binnenmarkt bald verlieren. Im April oder Mai soll die neue EU-Maschinenverordnung in Kraft treten. Mit einer Übergangsfrist von 42 Monaten würde sie ab Herbst 2026 gelten.

Viele Produkte müssen gemäss dem Verband Swissmem künftig zwingend durch eine Stelle in der EU zertifiziert werden. Der Export werde damit deutlich aufwändiger und teurer. Direktor Stefan Brupbacher (55) bleibt zwar zuversichtlich, dass die Schweizer Maschinenindustrie deswegen nicht ins Schlingern gerät. Doch: «Die Industrie braucht Stabilität im Verhältnis zur EU.»

Landwirtschaft, Baubranche, Datenschutz

Weitere Branchen, die unter Druck kommen könnten: die Landwirtschaft und die Baubranche. So hat die EU verschiedene Umwelt- und Gesundheitsvorschriften verschärft. Weil die zugehörigen Abkommen ebenfalls nicht angepasst werden, muss die Schweiz auch hier mit Mehraufwand, Mehrkosten und Rechtsunsicherheit rechnen.

Beim Datenschutz hat die Schweiz Anpassungen vorgenommen, um dasselbe Niveau wie die EU zu gewährleisten. Verweigert Brüssel die Anerkennung, dürfte Schweizer Unternehmen die Verarbeitung von Kundendaten aus der EU untersagt oder zumindest erschwert werden.

Stromversorgung

Noch drängender ist das fehlende Stromabkommen. Energieminister Albert Rösti (55) muss Mittel und Wege finden, um der Schweiz doch noch einen festen Platz im europäischen Strommarkt zu sichern. Andernfalls könnten im Winter Stromimporte wegfallen. Das hätte Auswirkungen auf Netzstabilität und Versorgungssicherheit.

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